Anna Zaum wird (vermutlich) 1934 in Härten in Westfalen geboren. Ihr Vater wurde aufgrund politischen Widerstandes in das Konzentrationslager Nordhausen (Harz) deportiert. Kurze Zeit später wurde die Restfamilie Zaum, Mutter und drei Mädchen, aus dem Ruhrgebiet in das Dorf Leopoldshöhe evakuiert, wo sie in einem Einfamilienhaus unterkamen. Auch der jüdischen Malerin, Ilse Häfner-Mode, wurde ein Zimmer in dem Haus zugewiesen, welches ihrer Schwägerin gehörte, zu der sie zuvor jedoch keinerlei Kontakt hatte.
Aufgrund der politischen Gegebenheiten reagierten die Bewohner des Dorfes auf die Zwangseinweisung der Fremden mit Verschlossenheit und gingen nur ihren Heimarbeiten [2] nach, so dass diese „Fremden“ isoliert blieben. Vor allem Juden gegenüber herrschte eine offene Ablehnung, da man sich den damaligen Werten des Nationalsozialismus angepasst hatte.
Die offene Ausgrenzung, die Ilse erleiden musste, machte sich durch Beschimpfungen der Dorfkinder bemerkbar, was diese dann und wann durch Steinewerfen unterstrichen.
Alleine Annas Mutter nahm sich ihrer an und so entwickelte sich eine gegenseitige Freundschaft, die nicht bloß auf Zweckmäßigkeit beruhte, sondern auch auf Sympathie aufbaute.
Durch die Wohnsituation und das freundschaftliche Verhältnis der beiden Mütter, hatten auch die drei Mädchen die Gelegenheit Ilse genauer kennenzulernen, denn Ilse Häfner kam täglich zum gemeinsamen Mittagessen zu ihnen an den Tisch. In ihrer Kammer gab es lediglich ein unbequemes Metallbett. Familie Zaums Zimmer dagegen war mit Kommode, Herd und zwei Matratzen möbliert.
Den Schilderungen Anna Zaums ist zu entnehmen, dass Ilse eine humorvolle, aber insgesamt sehr ernste und distanzierte Frau war. Für die erzwungene eheliche Trennung von ihrem Mann war wahrscheinlich der Hauptgrund, dass zur Zeit des Nationalsozialismus Mischehen zwischen „Ariern“ und Juden laut der „Nürnberger Rassegesetze“ nicht legitim waren. Zum Schutze ihres Mannes ließ sie sich scheiden.
Auch der Abschied von ihrem geliebten Sohn prägte Ilses Befinden und ihren Charakter. Als 1939 der Krieg ausbrach, wurde Ilses Sohn zur Sicherheit in die Schweiz geschickt, wo er bei entfernten Verwandten lebte.
Auch wenn Ilse Häfner ihre Geliebten in Sicherheit wissen konnte, guckte sie oft ernst und sehnsuchtsvoll nach ihrem Sohn und Mann in die Ferne. Ihre Trauer und das Bedürfnis ihren Sohn wiederzusehen zeigte sich in ausdrucksstarken Bildern, auf welchen sie oft mit einem Jungen im Arm zu sehen ist. Einige von Ilse Häfner-Modes Ölgemälden sind noch heute in Besitz Anna Zaums.
Für Anna und ihre Geschwister war das Leben im Dorf ein kleines Paradies. Vom Krieg bekamen sie nicht viel mit. Anna beschreibt die Zeit des Hitlerregimes aus der Perspektive eines Kindes als unbeschwert. Beispielsweise erlebte sie die Förderung der Jugend im BDM (Bund Deutscher Mädel) als angenehm; sie wünschte sich ebenfalls einen dunklen Uniformrock wie ihre ältere Schwester ihn schon tragen durfte.
Von dem Druck der Zensur, den die Erwachsenen ausgesetzt waren, erfuhr sie in ihrer Kindheit nichts.
Alles ändert sich …
Als eines Tages drei uniformierte Männer in das Dorf kamen, änderte sich die Situation für die Familie Zaum und Ilse drastisch. Es war der Tag an dem die jüdische Malerin von der SS (Schutzstaffel) abgeholt und in das Frauenkonzentrationslager Elben deportiert wurde. Von dem Moment an hörte für eine lange Zeit niemand mehr etwas von ihr.
Als der Krieg 1945 sein lang erhofftes Ende fand, wurde Annas Vater aus dem KZ Nordhausen befreit. Nach seiner Rückkehr lag er für volle sieben Monate apathisch auf einer Liege in der Wohnküche.
Anna und ihre Geschwister empfanden die Wiederkehr ihres Vaters als unangenehm, da sie keinerlei Erinnerungen an ihn hatten und sie vor der ausgehungerten, fremden Gestalt und der Passivität des Vaters erschraken.
Als es ihm etwas besserging, erzählte er über die grausamen Erfahrungen, die er im KZ erlebt hatte. Er berichtete über Misshandlungen bis hin zu Folterungen, welche ihm angetan wurden. Nach und nach begriffen Anna und ihre beiden Schwestern, welche schlimme Zeit ihr Vater und viele andere Menschen durchgemacht haben mussten.
Auch Ilse wurde aus dem Frauenlager befreit und kehrte nach Leopoldshöhe zurück. Die Familie Zaum und sie halten noch lange Zeit Kontakt zueinander.
Frau Zaum berichtet heute, dass ihr Gerechtigkeitssinn durch die Entnazifizierung deutlich geprägt wurde.
Durch Zufall stößt sie im Internet auf einen längeren Bericht, welcher sie aufgrund seiner Scheinheiligkeit erschüttert:
Der Bericht gibt nicht das wieder, was tatsächlich geschehen ist, sondern schildert das Dorfleben als sehr idyllisch, beschreibt dabei das Leben der Ilse Häfner-Mode auf beschönigende und somit verfälschte Weise. Diese Verleugnung der vergangenen Ereignisse lässt ihr kaum Ruhe.
[1] Hausarbeit, Schneidern, Stricken und alle Arbeiten rund ums Heim, Haus, Wohnung ….
Ich war 10 Jahre alt, als ich 1948 mit meinem drei Jahre jüngeren Bruder Uli und meiner Mutter Ilse nach Aumühle zog. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen. Mir wurde erzählt, dass wir umziehen, weil meine Mutter Oma Margarete beim Einkaufen helfen und sich um sie kümmern sollte. Ob das der wahre Grund war, weiß ich bis heute nicht
Mit jemandem darüber reden, was man wirklich dachte, war nicht möglich, denn man wusste nicht, wem man vertrauen konnte. Grundsätzlich gab es kaum eine Möglichkeit zu reden, denn alle sagten “Der Feind hört mit”. Dieser Satz hing auf Plakaten bedruckt überall in unserer Stadt.
Heinrich Spitta war damals ein großer Musiker. Otto Jochum, der Bruder des berühmten Dirigenten Eugen Jochum, leitete auf den Braunschweiger Musikwochen der HJ die Stimmbildung. Außerdem arbeitete ein Professor Abendrot mit dem Orchester, wie Bernstein mit dem Schleswig-Holsteinischen Jugendorchester. Wie sollten wir ahnen, dass die HJ etwas Schlimmes sein sollte. So dachten wir uns: „Wenn solche Berühmtheiten in der HJ Mitglieder sind, dann muss es etwas Gutes sein.“
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können