Oma kannst du dich einmal kurz vorstellen und erzählen, wie deine Familie nach Russland gekommen ist?
Mein Name ist Hedwig Huk, mein Mädchenname war Langkopf und ich bin am 17.02.1929 in dem Dorf Michailutzka, Ukraine geboren. Ich war das vierte Kind meiner Eltern Olga Treichel (geb. am 18.05.1901) und Otto Langkopf (geb. am 10.01.1904)
Meine Großeltern waren Einwanderer aus Deutschland.
Als am 22. Juli 1763 Zarin Katharina die Große das “Einladungsmanifest” unterschrieb, ein Aufruf der besagte, dass mehr Siedler ins Land kommen sollten, reisten meine Vorfahren nach Russland.
Damit begann unsere Geschichte als Russlandsdeutsche.
Was beinhaltete dieses „ Einladungsmanifest“?
Das “Einladungsmanifest” der Zarin Katharina II., aus dem Jahr 1763, war ein Angebot, das sich generell an alle Ausländer richtete, vor allem aber an die Deutschen. In diesem Manifest versprach Katharina zahlreiche Anreize für die Einwanderer aus dem Westen: Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen und finanzielle Starthilfe.
Außerdem 30 Hektar Land pro Kolonisten- Familie (das ist 300.000 m2 ). Zudem wurde die Sprachfreiheit zugesichert, speziell für die deutschen Einwanderer. Vor allem aber: Religionsfreiheit !
Dieses Versprechen wurde eingehalten!
Welchen Beruf übten deine Eltern in Russland aus?
Mein Vater war ein tüchtiger Geschäftsmann und besaß eine Bonbonfabrik. Meine Mutter hat nicht gearbeitet. Meine Eltern waren reich und hatten Bedienstete (Mägde). Sie waren sehr „stolz“ auf ihren Erfolg. Als aber die Wende und die Armut kam, blieb nichts mehr so wie es war, denn 1932-1933 ordnete der sowjetische Diktator Stalin die Enteignung und Deportation von Menschen an.
Was bedeutet das für euch?
Die Enteignung und Verschleppung geschah mit äußerster Brutalität. Wer ein Pferd besaß, galt schon als reich und wer seinen Besitz versuchte zu verteidigen wurde erstochen oder niedergeschlagen. So kam es, dass unsere Familie im Frühjahr 1933 nach Kasachstan verschleppt wurde.
Ich war damals vier Jahre alt. Meine Mutter erzählte uns, dass wir in Viehtransporter hineingepresst und nach Kasachstan gebracht wurden. Heute würde man sagen, dass es Völkermord war, weil ganz viele die Überfahrt nicht überstanden.
Was wurde aus dem Versprechen der Kaiserin Katharina II., das besagte, dass die Deutschen jeder Zeit nach Deutschland zurückkehren durften?
Das Versprechen wurde zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erfüllt. Menschenleben waren zu der Zeit nichts wert. Es wurden Menschen umgebracht, verschleppt, aber im Krieg hat so ein Zivilist nichts zu melden.
Wessen Staatsangehörigkeit hattet ihr, die Deutsche oder die Russische?
Meine Mutter besaß eine Einwanderungsurkunde die bestätigte, dass wir deutsche Staatsangehörige seien und dadrin wurde auch festgehalten, dass wir im Besitz von Ländereien waren, die wir von der Kaiserin Katharina II. zugesprochen bekommen hatten.
Die russische Staatsangehörigkeit haben wir nie angenommen. Wir waren aber registriert und hatten auch einen Personalausweis.
Im Ausweis stand, dass wir Bürger der Sowjetunion sind und von der Nationalität Deutsche sind.
Unter welchen Bedingungen lebtet ihr damals in Kasachstan?
Ich erinnere mich, dass meine Mutter erzählte, dass es keine Zelte gab, nur freies Land.
Aus Lehm wurden Hütten gebaut, weil kein Holz zur Verfügung stand. So lange es Sommer war, ging es, aber dann kamen der Herbst und der Winter. Die Menschen waren an die Wetterbedingungen nicht gewöhnt, weil es in Kasachstan bis zu – 45 ° C Eiseskälte gab. Viele Frauen und Kinder starben. Der Friedhof ist heute noch drei Mal so groß wie das Dorf. Von 1932 bis 1940 versuchten die Menschen zu überleben und es ging uns den Umständen entsprechend gut.
Durch die Landwirtschaft erhielten wir das, was wir brauchten um zu überleben, also Lebensmittel wie Brot, Milch und Fleisch.
Was geschah, als der Krieg ausbrach?
Als der Krieg ausbrach, wurden wir Deutsche von den Russen als Faschisten angesehen, außerdem wurden alle von 15 Jahre bis 50 Jahre in ein Arbeitslager gebracht. Darunter waren auch mein Stiefvater, meine Schwester und mein Bruder, sie wurden mit aller Gewalt abgeholt und verschleppt. Ich war damals 12 Jahre alt, daher blieb ich mit meinen kleinen Geschwistern bei meiner Mutter.
Die Frauen, Kinder und ältere Leute, die blieben, waren gezwungen in der Landwirtschaft zu arbeiten, um zu überleben. Wir haben die Felder bestellt, Kartoffeln, Karotten und Kohl gepflanzt, halt alles, was im kalten Kasachstan wachsen konnte. Das war eine schwere körperliche Arbeit, da es keine Technik gab, wie man sie heute hat. Wir Kinder arbeiteten den ganzen Tag auf den Feldern, zum Essen gab es damals eine kleine Lehmschüssel mit etwas Suppe. Fleisch oder Brot gab es nicht.
Ich erinnere mich, dass eine Frau, die ein kleines Kind hatte, dabei erwischt wurde, wie sie Weizen stahl.
Sie durfte das Kind noch zum letzten Mal stillen und wurde dann sofort weggebracht. Man erzählte sich, dass sie ins Gefängnis/ Arbeitslager kam. Es passierte häufiger, dass Menschen nachts ohne einen Prozess von zu Hause abgeholt wurden und keiner wusste, was mit Ihnen geschah.
Da die Kinder noch zu klein waren, um mitzuarbeiten, kümmerten sich Nachbarn um sie, damit diese nicht verhungern, jedoch die große Hungersnot und die Angst vor Strafe, zwang die Leute nur noch an sich zu denken.
Ich weiß noch, wie ich einmal nicht das Feld bearbeiten konnte, da der Bulle sich an den Hufen verletzte. Da kam der Kommandant auf dem Pferd und schlug mich mit der Peitsche so lange, bis ich nicht mehr weglaufen konnte. Das war schlimm. Aber viel schlimmer fand ich es, als er dann in der Großküche einen Befehl aussprach, dass ich kein Essen bekommen sollte. Das Essen brauchte ich für meine Mutter, die zwei Jahre schwer erkrankt im Bett lag, sie konnte nicht laufen, und für meine zwei kleinen Geschwister, damit sie nicht verhungerten. Mein kleiner Bruder verstand damals schon etwas mehr, er weinte nur, aber meine kleine Schwester, die vier Jahre alt war, kam mir immer entgegengelaufen und fragte: „Hast du etwas zu Essen mitgebracht?“ An dem Abend kam ich nach Hause und hatte keine Suppe mitgebracht. Sie weinte so furchtbar und sagte: „Mein Bauch tut so weh“. Wir aßen alles, sogar Brenneselblätter.
Denn eine eigene Ernte gab es nicht, alles musste für den Krieg abgegeben werden. Es wurden sofort Kommandanten gestellt, das waren Russen, die jegliche Vollmachten hatten.
Wie wurde euer Alltag als der Krieg ausbrach beeinträchtigt (Schule/Beruf)?
Am Abend wurde jeder Familie Wolle gebracht, egal ob es nur kleine Kinder waren oder schon etwas ältere Menschen. Jede Familie hatte bis zum Morgen gestrickte Handschuhe und Socken abzuliefern. Ansonsten hieß es „ Ihr seid gegen den Krieg und ihr wollt nicht die russische Soldaten unterstützen“. Dann wurde sofort die Essensausgabe eingestellt und beim nächsten Mal war die Bestrafung Einzelhaft. Dort wurden auch einige Kinder gefoltert. Mein Bruder wurde beim Stehlen erwischt, er hatte eine Kartoffel geklaut. Der Kommandant hatte dann seine Finger in der Tür eingequetscht, aber so schlimm, dass er ganz lange die Finger nicht bewegen konnte. Er hatte Glück, dass er am Leben blieb. Es ist auch vorgekommen, dass Menschen umgebracht wurden.
Ich weiß noch, wie meine Mutter im Bett saß und meine kleine Schwester und ich strickten. Es ga kein Licht, nur eine kleine Zeltlampe mit Öl gefüllt. Unsere Finger taten so weh und meine Mutter sagte immer zu meiner Schwester: „Du musst der Hedwig helfen, sing ihr etwas vor, sonst schläft sie beim Stricken ein“. Heute lachen wir drüber, aber sie sprang und sang.
Lesen und schreiben brachte uns unsere Mutter an Hand der Bibel bei. Ich kann bis heute nur gotisch lesen.
Berufe erlernen, so etwas gab es nicht, jedoch mussten wir alle arbeiten, um zu überleben.
Heute würde ich sagen, wir waren vom ersten Tag an Gefangene.
Wusstet Ihr, was mit euren Verwandten geschah?
Nein, zu dem Zeitpunkt wusste niemand, wohin sie gebracht wurden oder ob sie noch lebten.
Aber später, als Michael Gorbatschow an die Macht kam, durften alle Personen Nachforschungen nach Vermissten beantragen und es wurden auch Auskünfte aus den Staatsarchiven erteilt.
Somit erfuhr ich, dass mein Bruder und meine Schwester in ein Arbeitslager im Ural gebracht wurden. Mein Bruder verhungerte dort. Meine Schwester Wilma überlebte und heiratete damals im Arbeitslager einen Aufseher und sie lebt bis heute noch dort.
Meine Mutter, also deine Uroma konnte Ihren Schwiegersohn bis zu Ihrem Tot nicht leiden. Sie sagte immer: „Deine Schwester ließ sich nur mit ihm ein, um zu überleben, ihren eigenen Bruder ließ sie dort verhungern“. Wie dem auch sei, sie kamen sehr selten in unser deutsches Dorf, weil die Leute in unserem Dorf ihn auch nicht mochten und das merkte und spürte er auch.
Wie erging es euch nach dem Krieg?
Die ersten Überlebenden aus den Zwangslagern kamen im Jahr 1956. Es waren aber nur 5 Männer. Wir waren unter der Kommandantur bis 1956. Das Leben unter Kommandantur war wie ein Leben im Gefängnis. Man hatte, obwohl man sich in dem Dorf frei bewegen durfte, das Gefühl, dass man eingesperrt war. Außerhalb des Dorfes durften wir uns nur mit Genehmigung des Kommandanten aufhalten, die wir allerdings, vielleicht aus Angst vor Flucht, nicht bekamen. Drei Kilometer vom Dorf entfernt befand sich ein Bahnhof. Hielt man sich dort ohne Erlaubnis auf und wurde kontrolliert, ohne sich mit der Erlaubnis ausweisen zu können, wurde man vor Gericht gestellt und mit 10 Jahren Haft bestraft.
Einmal im Monat mussten wir uns bei unserem Kommandanten melden und einen Zettel unterschreiben, damit sichergestellt war, dass noch alle da waren und niemand floh.
Aus Angst vor dem Gefängnis floh keiner.
Ab 1956 ging es uns dann besser. Es wurden Häuser gebaut, geheiratet, es kamen Kinder zur Welt, eine Schule wurde gebaut, alles in allem war es damals ein sehr schönes Dorf, das sich von den russischen Dörfern sehr unterschied.
Wieso?
Das sagten uns immer die Durchreisenden oder die Soldaten, die zur Ernte nach Kasachstan eingesetzt wurden. Das hier ist ein deutsches Dorf. Ein Deutscher, wenn er nicht Krieg führt, der baut. Unser Dorf war sehr sauber, die Häuser wurden immer zum Frühjahr neu angestrichen, die Straßen mit Sand aufgeschüttet, die Gärten bepflanzt
Wann durftet Ihr nach Deutschland ausreisen?
Als Michael Gorbatschow an die Macht kam, durfte jeder Nachforschungen anstellen, was mit seinen verschollenen Angehörigen geschah. Desweiteren machte er es möglich, dass jeder der nachweisen konnte, dass er ein deutscher Bürger war und Angehörige in Deutschland hatte, ein Visum beantragen konnte und anschließend ausreisen durfte.
Da ich im Besitz der Urkunde von deiner Uroma war, war das ein Beweis, dass wir Deutsche sind und somit ließ man uns ausreisen. Aber so einfach war es nicht, wir hatten Auflagen zu erfüllen. Es wurde uns vorgeschrieben, was wir mitnehmen durften und dass wir keine Ansprüche an Russland stellen dürfen. Die Urkunde musste auch in Russland abgeben werden. Diese Urkunde ist jetzt, so glauben wir, im russischen Staatsarchiv.
Ich habe in dieser Zeit viele Maßnahmen ergriffen, mich von Freunden getrennt, Koffer gepackt und schon die halbe Wohnung aufgelöst, um für den Tag der Ausreise vorbereitet zu sein. Die Ungewissheit, wann es soweit ist, war immer da; denn dies wurde durch ein Telegramm von einem Tag zum anderen mitgeteilt.
Nach der Verkündigung unseres erzwungenen „Umzugs” hatten wir vier Stunden Zeit, um unsere Sachen zu packen. Jede Familie wurde mit ihrem Hab und Gut auf je einer Kutsche verladen und transportiert. Wir brauchten eine Nacht bis zu der Eisenbahnstation. Auf einem Zug ging es eineinhalb Monate weiter. Die Reise führte uns ins Ungewisse.
Bilder, die man am liebsten vergessen und Ereignisse, die am liebsten verdrängen würde. Obwohl es schon 72 Jahre her ist, sind die Erinnerungen immer noch so präsent als wäre es erst gestern gewesen. Eine Kindheit die aus Flucht, Angst, Bomben, Gewalt und unzähligen Toten besteht. Doch was sind die prägenden Ereignisse, die man, wie damals durch Kinderaugen, auch noch nach so vielen Jahren vor sich sieht?
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können