Interviewpartner Lissi Siemers (*1925)
Es war im Sommer 1943, als mein Wecker morgens um halb acht klingelte. „Aufstehen“, rief mein Vater die Treppe des Museums für Hamburgerische Geschichte in St Pauli, in dem mein Vater seit nun sieben Jahren Hausmeister war, herunter. Ich blickte auf. Mein Blick fiel direkt auf meinen gepackten Koffer, der in der Ecke meines Zimmers stand. Mein Koffer sollte immer gepackt sein, haben meine Eltern gesagt. Zeit um den Koffer auszupacken blieb uns auch gar nicht, da es oft Fliegeralarm in Hamburg gab. Die Sonne strahlte in mein Zimmer. Ich stand auf und holte meine Schulsachen. Ich rannte die Treppen hoch, holte mir aus der Küche noch schnell eine Stulle, und ging raus.
Ich hatte ein komisches Gefühl an diesem Morgen. Es roch irgendwie merkwürdig .Ich ging über die Straße. Meine Schule war genau gegenüber. Viele meiner Freunde waren eifersüchtig, da ich genau gegenüber wohnte. Ich ging auf den Schulhof, wo wir uns jeden Morgen trafen und die Nationalhymne sangen. Danach ging ich mit meinen Freunden in die Klasse. „Hitler über alles“, sagte meine Lehrerin am Anfang jeder Stunde. Ich schloss die Augen. Ich hatte Angst. Angst, immer wieder hatte ich Angst. Jeden Tag immer wieder. Ich betete, daß der Krieg doch bald zu Ende sei. Ich blickte aus dem Fenster, in den Himmel. Dunkel war der Himmel von dem Rauch, überall brannten Gebäude.
Aber das alles war nichts gegenüber dem, was in den nächsten 24 Stunden passieren sollte. Es klingelte. Die Stunde war zu Ende und ich ging nach Hause. Ich legte mich nach der Schule ein wenig ins Bett und schlief ein. Die Stimme meines Vaters weckte mich wieder. Er wollte, dass ich ihm beim Reparieren der Fenster und Türen half. Ich nahm ein paar Bretter und nagelte sie vor ein Fenster im Erdgeschoss, das vor einigen Tagen von einem Bombenangriff kaputt gegangen war. Es war jetzt ca.16 Uhr, der Schrecken kam immer näher, aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich natürlich noch nicht was mich diese Nacht erwarten würde. Immer noch hatte ich dieses komische Gefühl in der Magengegend. Um 21 Uhr sah mich nun mein Vater vor erst zum letzten Mal. Er gab mir noch einen Gutenachtkuss, drehte sich um und verschwand oben an der Treppe. “Bis Morgen“, sagte er noch.
Ich lag in dieser Nacht lange wach. Ich sah auf die Uhr. Halb Zwölf war es nun. Von meinem Bett aus konnte ich mein Fenster gut sehen und sah nun in den schwarzen Himmel. Es war leise draußen. Vereinzelt gab es mal einen Knall. Ich hatte Angst, wie immer.
Ich hörte plötzlich leise in weiter Ferne Flugzeuge anfliegen. Meine Angst steigerte sich. Da sah ich am Himmel ca. 10 Flugzeuge. Ungefähr nach 1 Min. machte meine Mutter meine Tür auf und rief, ich solle meinen Koffer nehmen und mitkommen.
Ich nahm ihn und rannte die Treppen hinauf. Ungefähr eine Minute später gab es Fliegeralarm. Ich rannte mit meiner Mutter so schnell wie ich noch nie gelaufen bin über die Straße. Meinen Vater sah ich nicht mehr, da er als Hausmeister das Museum nicht verlassen durfte…!
Ich rannte ungefähr 5 min, über die Strasse, quer über eine Kreuzung zum Bismarckdenkmal. Unter dem Bismarckdenkmal war ein riesiger Bunker eingebaut worden. Ich blickte noch einmal zurück zu dem Museum wo mein Vater war. Aber viel Zeit zum Gucken blieb mir nicht mehr. Ich sah nach oben in den Himmel wo ca. 100 bis 150 feindliche Flugzeuge zu erkennen waren. Plötzlich sah ich grüne Leuchtmunition, die die Flugzeuge abgeworfen hatten. Sie sahen aus wie viele grüne Tannenbäume, die das Gebiet markierten welches bombardiert werden sollte. Ich drehte mich gleich wieder um und kroch durch eine kleine Nebenöffnung in den Bunker hinein. Der Bunker war in mehrere Räume aufgeteilt. Ich rannte mit meiner Mutter durch den ersten und zweiten Bunker, was später unser Glück sein sollte. In dem dritten Raum stellten wir nun unsere Koffer in die Ecke und setzten uns daneben. Ich zitterte und merkte, dass auch meine Mutter zu zittern anfing. Ich kauerte mich zusammen. Draußen wurde es immer lauter. Die kleine Luke durch die wir rein gekommen sind, wurde nun geschlossen. Wir warteten, doch lange passierte nichts. Ich konnte mich kaum bewegen und hoffte eine ganze Zeit, dass es bald wieder vorbei sei, was eigentlich Schwachsinn war, da es ja noch nicht mal angefangen hatte.
Wir warteten. Der Boden wackelte von den Bombeneinschlägen in der Umgebung.
Plötzlich, wurde der Bunker seitlich von einer Bombe getroffen. Alle schrieen, es drohte Panik auszubrechen. Ich riss meine Arme instinktiv über meinen Kopf, um mich zu schützen. Ungefähr eine 3 Meter lange Spalte war neben mir in der Wand e entstanden, sie war ungefähr 3 bis 5 cm breit. Schließlich wurde die Luke geöffnet und einer nach dem anderen kam zu uns in den Raum. Durch die Spalte konnte man direkt in den Nebenraum sehen, es brannte, wo die Bombe eingeschlagen war. Wir hatten immer mehr Angst. Ich bekam kaum noch Luft. Jetzt fielen in regelmäßigen Abständen die Bomben. Der Bunker erschütterte, der Boden bewegte sich wie eine Raupe.
Draußen war es laut, man konnte sein eigenes Wort kaum noch verstehen, Ich traute mich nicht einmal den Kopf nach oben zu nehmen. Ich kauerte mich weiter in die Ecke. Rauch kam durch die Luke in den Raum. Dreck flog draußen durch die Luft. Ich zitterte. Mir wurde kalt vor Angst. Ich hatte das Gefühl, die Zeit blieb stehen. Ich hatte Hunger und Durst. Ich dachte an meinen Vater, der jetzt sicher im Keller des Museums saß, ich hoffte es zumindest. Ich hatte Angst um ihn. Aber viel an ihn denken konnte ich vor Kälte und Hunger nicht. Draußen fielen immer noch die Bomben.
Wir blieben noch ungefähr 4 Stunden dort sitzen, dann wurde es leiser draußen. Die Motorengeräusche hörten auf und das Knallen auch. Ungefähr eine halbe Stunde mussten wir noch warten, bis es Entwarnung gab.
Ich kroch mit meiner Mutter zurück. Als wir draußen waren und ich endlich wieder einmal durchatmen wollte, fing ich an zu husten. Der ganze Dreck der durch die Bomben entstanden war, lag über den Bäumen. Es hatte sich ungefähr eine 3 bis 10 cm hohe Staub- und Dreckschicht über alles gelegt. Ich blickte über die Straße zum Museum, dort sah alles noch heil aus. Aber je näher ich heran kam, desto schlimmer war der Anblick. Als ich schließlich vor dem Museum stand sah ich das Ausmaß der Schäden. Das Museum hatte ca. 7 Volltreffer bekommen. Die Fenster waren kaputt. Das Dach war teilweise eingestürzt…!
Angst schoss durch meinen Körper und ich begann wieder zu zittern an. Plötzlich lief ich los. Auf das Museum zu. Ich machte die Tür auf und rannte in den Keller in der Hoffnung, mein Vater wäre dort unten. Ich stieß die Kellertür auf. In der Ecke sah ich meinen Vater zusammengekauert sitzen. Ich lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. Ich war froh ihn wiederzusehen…!
Am nächsten Abend, als ich wieder im Bett lag, dachte ich über die vergangene Nacht nach, Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. So viel Angst hatte ich noch nie gehabt.
Einige Zeit später bekam ich als Pflichtjahrmädchen eine Stelle in einem kleinen Betrieb in Curslack. Ein Jahr arbeitete ich dort. Eines Tages machte ich mich auf, um Eltern wieder zu sehen. Ich ging zu Fuß nach Bergedorf zum Bahnhof. Von dort aus fuhr ich mit einem Bummelzug bis nach Rothenburgsort, dann ging ich zu Fuß weiter bis zum Hauptbahnhof, da die Schienen zwischen den nächsten Stationen zerstört waren.
Über dem Hauptbahnhof flogen Tiefflieger. Alle rannten in den Bahnhofsbunker.
So viel Elend, wie es dort in dem Bunker gab, habe ich mein Leben lang noch nicht gesehen
Menschen mit nur einem Arm oder einem Bein saßen dort. Der Bahnhof wackelte, ein alter Man sah mich an, er hatte eine riesige Platzwunde am Kopf und nur noch ein Bein und einen Arm. Er fragte mich, wo ich hin wolle in dieser gefährlichen Zeit. Ich sagte, ich wolle zu meinen Eltern ins Museum für Hamburgerische Geschichte. Er guckte auf den Boden, und sagte, ich solle auf mich aufpassen. Er sagte, komm Mädel, im Moment fällt keine Bombe. Geh raus und geh zu deinen Eltern. Ich sah ihn an. Ich machte, was er sagte. Ich stand auf und ging aus dem Bunker und rannte los. Ich rannte, rannte und rannte. Ich guckte nach oben, über mir flogen die Tiefflieger hinweg. Ich rannte bis zur Lombardsbrücke.
Dort kam mir ein älterer Mann in entgegen. Ich fragte, ob er wisse in welchem Zustand sich das Museum für Hamburgerische Geschichte befände. Er guckte mich an und sagte nur, das Museum sei schon vor einem halben Jahr ausgebrannt. Ich war außer Atem, mein Herz schlug so schnell wie noch nie. Ich rannte weiter. Auf dem Weg setzte ich mich schon mit dem Gedanken auseinander, dass ich meine Eltern nie wiedersehen würde. Ich musste noch um eine Ecke und dann sah ich das Museum. Ich überlegte noch kurz, ob ich es wirklich noch einmal sehen wollte. Ich entschloss mich dafür, sonst hätte ich diesen Weg ja umsonst gemacht. Ich ging um die Ecke, mein Herz schlug noch schneller. Zu meiner Überraschung stand das Museum noch so da, wie ich es zuletzt gesehen hatte. Das setzte noch einmal meine letzten Kräfte frei. Ich rannte ins Museum. Ich öffnete die Tür. Dort standen auch schon meine Eltern. Ich fiel ihnen um den Hals. Ich freute mich, sie lebend wieder zu sehen. Ich wohnte noch einige Tage dort und musste mich dann wieder auf den Weg zurück nach Curslack machen, wo ich wieder arbeiten musste. Dort beendete ich dann auch mein Pflichtjahr. Noch heute habe ich große Angst vor Gewittern und Feuerwerken, weil die Erinnerungen an die Bombenangriffe wieder hoch kommen.
Jeder Tag wurde mit einem markigen Spruch begonnen, wie zum Beispiel „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Dieser Spruch wurde von unserer Führerin vorgesprochen, den wir dann nachsprechen mussten. Pflicht war in diesen Lagern immer an vorderster Stelle. „Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um unsere Pflicht zu tun!“ Dies wurde uns immer vorgesagt.
Die Pionierleistungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Freien Angestelltenbundes und des Bauhüttenverbandes Nord, menschenwürdigen und ausreichenden Wohnraum zu schaffen, reichen bis in unsere heutige Zeit hinein. Und für “Otto Normalverbraucher” ist es immer noch erstrebenswert, eine preisgünstige und nicht dem Gewinnstreben unterliegende Wohnung in einer Genossenschaft zu mieten.
Mit neun Jahren wurde ich zum Jungvolk einberufen […] abends wurde uns etwas vorgelesen, das waren Texte, die uns gegen die Kommunisten aufhetzen sollten, kann ich heute sagen. Da wurde uns zum Beispiel auch gesagt, dass Horst Wessel von Kommunisten ermordet wurde, was aber nicht stimmt.
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können