Meine Jugend im sowjetischen Arbeitslager

Das Interview wurde von Diana Teichrieb geführt und bearbeitet

Wie haben Sie erfahren, dass der 2. Weltkrieg begonnen hat und wie wurden Sie ins Arbeitslager deportiert?
Der Zweite. Weltkrieg hat um vier Uhr morgens begonnen und ich habe es noch am selben Tag um zwölf Uhr abends durch das Radio erfahren. Ich lebte in einem deutschen Dorf nahe Wolgograd, aus dem alle deutschen Bewohner in ein Arbeitslager geschickt wurden. Damals gab es in jedem Dorf einen Vorsitzenden, einen Direktor des Dorfes, der mich und alle, die im Dorf lebten, mitnahm. Dem Vorsitzenden wurde jeden Tag Bescheid gegeben, wie viele Menschen zum Arbeitslager gebracht werden müssen.
Doch die Russen wurden nicht angerührt, nur wir, weil wir als Russlanddeutsche galten und als Feinde von Russen bezeichnet wurden. Man nannte uns „Faschisten“. Die Russen hatten Angst, dass wir Deutschen gegen die Russen im Zweiten Weltkrieg kämpfen würden.

Doch bevor ich ins Arbeitslager gebracht worden bin, durfte ich noch einige Sachen mitnehmen, so viel, wie ich tragen konnte. Ich weiß noch, dass ich meine Filzstiefel für den Winter, einen Mantel und noch andere Stiefel mitgenommen habe. Zum Arbeitslager sind wir zu Fuß gegangen oder mit den Waggons gefahren, womit früher Vieh transportiert wurde.

Als ich ins Arbeitslager geschickt worden bin, wurde ich von meinen Eltern getrennt. Diese wurden ebenfalls in ein Arbeitslager deportiert. Zu dieser Zeit war mein Bruder gerade mal elf Jahre alt, er konnte noch nicht arbeiten und blieb deshalb erstmal im Dorf mit unserer Oma, bis auch sie später in ein Arbeitslager geschickt wurde. Mein Bruder erzählte mir später, dass er Essen klauen musste, um am Leben zu bleiben. Die Kinder, welche im Kinderheim waren, hatten ein viel schöneres Leben, denn diese Kinder blieben am Leben. Die Kinder, die im Dorf geblieben sind, verhungerten.

 

Welche Verhältnisse und welche Eindrücke hatten Sie im Arbeitslager?
Das Arbeitslager befand sich in Kasachstan, dort haben wir mindestens zwölf Stunden lang gearbeitet und manchmal wurden sogar 16 Stunden verlangt. Wir mussten also Tag und Nacht arbeiten, um wenigstens ein Stück Brot zu bekommen. Nur morgens und abends erhielten wir Brot, mehr nicht. Doch für dieses Stück Brot mussten wir Schlange stehen und darauf warten. Manchmal standen wir stundenlang an, um das Brot, das wir uns erarbeitet hatten, endlich zu bekommen. Manche erhielten auch ein wenig Geld. Dieses Geld versteckten wir meist, um noch mehr Brot zu kaufen.

 

Dieses Arbeitslager war nur für Russlanddeutsche, in dem viele Menschen durch Hungersnot starben. Die Arbeit war sehr hart und anstrengend, denn unsere Aufgabe bestand darin, Gruben zu graben, in denen anschließend Rohre verlegt wurden. Beim Graben wurden wir in zwei Seiten aufgeteilt. Auf der linken Seite arbeiteten die Schwachen und Kinder, auf der rechten Seite die älteren oder auch stärkeren Personen. Wenn ich meine Normen nicht erfüllte, die mir vorgegeben wurden, dann habe ich kein Brot bekommen. Deshalb gab es sehr viele Menschen, die dadurch gestorben sind, weil sie viel zu schwach waren und nicht in der Lage waren, diese Normen zu erfüllen. Sie hatten keine andere Wahl als zu sterben.

 

Die Kleidung bekamen wir von den Vorgesetzten, diese war von der Saison abhängig. Zum Glück hatte ich noch meine Filzstiefel mitgenommen, die mich sehr gut vor der Kälte geschützt haben. Auch durch die Kälte sind viele Menschen gestorben.
Ich kannte viele Menschen dort, weil wir alle von einem Dorf aus in dasselbe Arbeitslager gebracht wurden. In meinem Arbeitslager sind nicht so viele Menschen gestorben. Ich hörte jedoch, dass in den ganzen anderen Arbeitslagern die meisten von dem Vorsitzenden geschlagen wurden, weil sie nicht schnell genug gearbeitet hatten. Viele sind in den anderen Arbeitslagern gestorben. Es kam immer auf den Vorsitzenden drauf an – wenn ihnen die Menschen leid taten, dann haben mehr Menschen überlebt. In meinem Arbeitslager hatten wir einen sehr guten Vorsitzenden, dies ist auch der Grund, warum bei uns sehr viele Menschen am Leben geblieben sind.

 

Im Arbeitslager arbeiteten Frauen und Männer getrennt, also nur die Frauen untereinander und die Männer. Wir hatten dort auch einen Raum, wo wir nur schlafen konnten, hier waren ebenfalls Männer und Frauen getrennt.
Ich weiß noch, als ich nach dem Krieg zum Arzt gegangen bin, weil ich sehr krank war. Die Ärztin war entsetzt, als sie meine Schultern sah. Ich kann mich sogar gut daran erinnern, dass sie angefangen hat zu weinen. Denn durch die schwere Arbeit im Arbeitslager, das Tragen der schweren Rohre, sahen meine Schultern schrecklich aus. Sie hat mich gefragt, wie ich das nur aushalten konnte. Den meisten Ärzten taten wir leid, doch sie konnten nichts dagegen machen. Es gab auch Situationen, wo die Ärzte einige Menschen für eine Zeitlang krankgeschrieben haben, ich war auch davon betroffen. Ich lag dort nur für ein paar Tage, bis es mir wieder besser ging. Wir haben jeden Tag Brot bekommen, ohne zu arbeiten, das war für uns damals unvorstellbar.
Im Arbeitslager konnten wir uns gegenseitig Briefe schreiben, so habe ich erfahren, in welchem Arbeitslager sich mein Vater befand.
Mein Vater war in einem bestimmten Männerarbeitslager, er hat den Krieg überlebt. Doch alle seine Brüder, außer einem, sind verstorben. Die Menschen, die starben, wurden auf dem Friedhof beerdigt, dieser befand sich nicht weit entfernt von dem Arbeitslager. Auch meine Mutter, Oma und mein Bruder haben den Weltkrieg überlebt.

 

Wie war es nach dem 2. Weltkrieg?
Es gab draußen immer so einen großer Lautsprecher, wo wir jeden Morgen Bescheid bekamen, in welchem Gebiet der Krieg aktiv läuft. So haben wir auch erfahren, dass der Zweite Weltkriege zu Ende war. Doch ich wurde nicht sofort vom Arbeitslager freigestellt. Ich befand mich noch ein paar Tage nach dem Ende des Krieges im Arbeitslager. Ich war unglaublich froh, als uns gesagt wurde, dass wir frei sind und zu unserer Familie zurückkehren durften. Ich bin dann zu meinem Vater in das Ural-Gebirge gefahren.
Nach dem Krieg habe ich als Minenarbeiterin gearbeitet und habe in einem Wohnheim gewohnt, das ich vom Arbeitgeber zugewiesen bekam.

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