Meine Kindheit und Jugend 1930 bis 1945

Von Anabel Pospiech

Interview geführt am 11. September 2015

 


Elternhaus in Dramatal Os

Über meine Familie

Geboren wurde ich am 22. Mai 1930 in Dramatal Os, dem heutigen Zbrosławice in Polen. Damals gehörte Oberschlesien noch zu Deutschland. Anfangs hatte ich eine sehr schöne Kindheit. Ich lebte mit meiner Mutter, meinem Vater und meiner drei Jahre älteren Schwester Elfriede in einem großen Haus. Mein Vater war von Beruf aus Hauer und arbeitete in einem Bergwerk in Mechtal (Miechowice). Meine Mutter war Hausfrau und kümmerte sich um uns Kinder, das Haus, den Hof und die paar Tiere. Als ich sieben Jahre alt war, änderte sich mein Leben dramatisch.

Meine Schwester wurde auf einem Spaziergang von einem Hund angegriffen und zerbissen. Ich kann mich noch genau an ihre Narben erinnern, einige waren so groß wie meine Hände. Das war ein Schock für mich. Wir brachten sie in eins der besten Krankenhäuser, die es damals gab. Doch sie starb zwei Monate später an den Folgen ihrer Verletzungen. Es war sehr schwer für mich, ohne sie zu leben. Es wurde noch schlimmer, als einen Monat später auch meine Mutter starb. Jetzt hatte ich nur noch meinen Vater, den ich lieb hatte. Kurz nach dem Tod meiner Mutter wohnte ein älteres Fräulein bei uns, die uns im Haushalt half und für uns kochte. Sie war sehr lieb zu mir und hat mir viel für das weitere Leben beigebracht, z.B. Stricken, Nähen oder Socken stopfen. Im Jahr 1938 hat mein Vater nochmal geheiratet. Meine Stiefmutter war gut zu mir, aber ich habe oft gespürt, dass sie meine leibliche Mutter nicht ersetzen kann. Obwohl mein Vater genug Geld für die Familie verdiente, ging sie arbeiten und ließ mich immer alleine zu Hause. Ich habe sehr oft deswegen geweint, weil die ganze Hausarbeit an mir hängen blieb. Im Jahr 1942 bekam ich noch einem Bruder, um den ich mich gerne kümmerte. Auch später haben wir uns gut verstanden.

Meine Schulzeit

Im Alter von sechs Jahren wurde ich in die Albert-Leo-Schlageter Schule bei uns im Ort eingeschult. Ich bin immer sehr gerne in die Schule gegangen, weil ich dort meine Freunde getroffen habe. In der Schule wurden die Fächer Geschichte, Deutsch, Mathematik, Handarbeit, Turnen und Hauswirtschaftslehre unterrichtet. Fremdsprachen wurden nicht unterrichtet.

 
Wir haben mit der Klasse auch viele Ausflüge unternommen. Es gab mehrmals im Jahr einen Wandertag, bei dem wir meistens in den Wald gingen, und im Sommer gingen wir häufig in die Badeanstalt. So etwas wie Klassenreisen gab es nicht. Als ich älter war, so ungefähr zwölf, sind wir einmal im Monat ins Krankenhaus gefahren, um die verwundeten Soldaten zu besuchen. Wir haben ihnen Blumen mitgebracht und mit ihnen zusammen Lieder gesungen. Seit diesen Tagen war es mein größter Wunsch, Krankenschwester zu werden. Die Schule habe ich mit 14 Jahren beendet. Ich suchte gleich eine Lehrstelle im Krankenhaus. Da noch Krieg herrschte, war dies leider nicht möglich. Ich musste ein Pflichtjahr machen und ein Jahr lang in einem anderen Haushalt helfen. Später arbeitete ich in einem Altenheim.
Elternhaus in Dramatal Os

Hitlerjugend

Seit meinem zehnten Lebensjahr ging ich regelmäßig in die Hitlerjugend. Ich bin gerne hingegangen. Wir Mädchen trugen weiße Blusen mit der Aufschrift “Dramatal Os” am Ärmel, ein schwarzes Tuch um den Hals und einen dunkelblauen Rock. Ich ging mehrmals in der Woche dort hin. Wir besuchten ebenfalls die verwundeten Soldaten im Krankenhaus oder bastelten Sachen aus Holz. Jedes Jahr am Muttertag musste jeder seine Mutter mit einem Blumenstrauß abholen und in ein Lokal bringen, dort wurde mit den Müttern gemeinsam Kuchen gegessen.

 

Wie ich den Krieg erlebt habe

Am ersten September 1939 fing der Krieg an. Wir bekamen gleich am ersten Tag auf Papier gedruckte Lebensmittelmarken. Von jetzt an waren alle Lebensmittel rationiert. Je nachdem wie schwer man arbeitete oder wie alt man war, wurde einem die Ration zugeteilt. Gemüsemarken haben wir damals nicht bekommen, da wir einen großen Garten hatten, wo wir selber Obst und Gemüse anbauten. Im Ort verteilt gab es immer Soldaten und auf den Feldern vor dem Ort standen Soldaten mit der Flak (Flugabwehrkanone), um feindliche Flugzeuge abzuwehren. Im Radio wurde immer bekanntgegeben, ob sich feindliche Flugzeuge näherten. Ich erinnere mich genau. Zuerst ertönte der Kuckuck und dann kam die Nachricht: “ Achtung, Achtung! Das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht gibt bekannt, feindliche Flugzeuge über … gesichtet!” Durch das Radio wussten wir, wo sich die Flugzeuge befinden und wann sie bei uns sein können. Wir mussten immer zur Sicherheit in den Keller gehen. Während der Schulzeit lief auch immer ein Radio und bei einer Nachricht über einen zu erwartenden Luftangriff gingen wir in den Luftschutzkeller. Der Luftschutzkeller war ein großer Tunnel unter der Schule und er hatte vier Eingänge. Oft haben wir gehört, wie die Flak schoss. Die Zeiten, die wir im Luftschutzkeller verbrachten, waren von unterschiedlicher Länge. Als Kinder hatten wir oft Angst im Keller. Im Jahr 1945 gehörte unser Dorf und ganz Schlesien zu Polen, wir mussten die polnische Sprache lernen, denn es wurde nicht gerne gesehen, dass man Deutsch spricht.

Noch mehr Kollektives Gedächtnis