Die Enge der Kleinstadt Schmalkalden/DDR ließ in mir den Wunsch reifen die „weite Welt“ kennen zu lernen. Erst mit der Flucht aus der DDR in die BRD erhielt ich die Möglichkeit, zu studieren und der Enge der Kleinstadt zu entkommen.
Ich bin im April 1938 geboren. Dies war zu Beginn des Krieges. Die Kriegserklärung wurde 1939 ausgesprochen. Vom Krieg selber habe ich nicht viel mitbekommen. Da wir in der Kleinstadt Schmalkalden in Thüringen lebten, erreichten uns die Bombardierungen erst gegen Ende des Krieges. Getroffen werden sollten die für kriegswichtig gehaltenen Fabriken, aber die allermeisten Bomben fielen zum Glück in einen Berg in der Nähe. Ich erinnere mich an Fliegeralarm, Bombenangriffe, klirrende Fensterscheiben, Bombenlöcher und meine schrecklichen Ängste, die mich längere Zeit im Keller schliefen ließen.
Je näher das Ende des Krieges heranrückte, desto beschwerlicher wurde das Leben und die Versorgung unserer großen Familie. Zu meiner Familie gehörten damals mein Vater, meine Mutter, fünf Kinder, eine Oma und ein Kindermädchen sowie diverse Tiere. Wir lebten alle zusammen in einer Villa mit einem großen Garten, der in den Kriegs- und Nachkriegsjahren mehr und mehr zum Gemüse- und Obstgarten wurde. Wir hatten einen großen Hühnerstall, einen Kaninchenstall und im Heizungskeller drei Ziegen. Meine Stiefmutter stammte von einem Gut in Mecklenburg und kannte sich damit aus. Wir Kinder mussten viel in Haus und Garten helfen. Taschengeld bekamen wir keins, wir mussten es uns selbst verdienen, später auch mit Hilfsarbeiten in der Fabrik.
In der Endphase des Krieges im Jahr 1945, wurden noch als letzte Reserve Jugendliche und alte Männer sowie Material wie der Mercedes meines Vaters an die Front beordert. So mussten auch noch mein Vater (geb. 1902) und mein ältester Bruder (geb. 1927) zum „Volkssturm“. Sie kamen beide ausgemergelt, aber unverletzt nach der Kapitulation zurück.
Anfang April 1945 marschierten amerikanische Truppen in Schmalkalden ein, weshalb meine Familie unser Haus verlassen musste. Entsprechend dem Potsdamer Abkommen wurde dann Thüringen gegen einen Sektor von Berlin ausgetauscht. Danach war es meiner Familie erlaubt, wieder zurück ins Haus zu ziehen, was wir uns jedoch für einige Zeit mit einem kinderfreundlichen, russischen Kommandanten teilen mussten. Dennoch blieb eine Angst vor „den Russen“ bei den Erwachsenen. In die großen Parterre-Räume zogen danach Flüchtlinge aus den Ostgebieten und das blieb so, denn die Wohnraumbewirtschaftung hielt auch nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) an.
Meine beiden ältesten Brüder gingen schon Ende der 40er Jahre nach Westdeutschland und 1944 kam ich in die Mädchenschule, an der ich acht Jahre verbrachte. Ab der fünften Klasse wurden wir in Russisch unterrichtet, welches ein Pflichtfach war. Wahlfächer hatten wir keine. Da ich jedoch den Sprachlichen Zweig belegte, hatte ich Englisch und in den letzten zwei Jahren auch Latein. Mit meinem guten Volksschulabschluss hatte ich die Möglichkeit zur Oberschule zu gehen. Damit ich jedoch sicher sein konnte mein Abitur machen zu dürfen, trat ich im letzten Schuljahr doch noch der Freien Deutschen Jugend bei. Bis dahin war ich weder Junger Pionier noch FDJler. Nach meinem Abitur wusste ich nicht, was ich machen sollte, da mir als Tochter eines „Kapitalisten“ kaum Studienmöglichkeiten offenstanden.
Ich ging schließlich in die Fabrik meiner Familie, wo ich im Büro arbeitete. Dadurch hatte ich die Chance, zu den Leipziger Messen mitzukommen, was für mich die große weite Welt war. Aus diesem Grund habe ich mich dort nach einer Stelle umgesehen und konnte sie in einer Buchbinderei finden. So zog ich 1958 aus der Kleinstadt, die mir nur eine in jeder Hinsicht eingeschränkte Zukunft bieten konnte, in die Universitäts- und Messestadt Leipzig. Dieser Umzug machte es mir schließlich möglich (auch, weil ich dadurch meine Eltern nicht so belastete), dass ich mich ernsthaft mit einer Flucht aus der DDR befasste, wozu sich in diesen Jahren mehr und mehr DDR-Bürger entschlossen. Ich wusste nicht, wann und ob ich meine Eltern und Schmalkalden dann je wiedersehen würde.
Am 1. Mai 1960 fuhr ich von Leipzig nach Berlin und vom Bahnhof Friedrichsstraße nur eine Station mit der S-Bahn bis Zoologischer Garten. Aber es war sehr aufregend, weil aufgrund der obligatorischen Mai-Demonstration die Bahn fast leer war und ich sehr stark mit dem Koffer auffiel. Ich stellte ihn an einem anderen Platz ab. (Diesen kleinen Pappmache-Koffer habe ich heute noch.) Zum Glück kam keine Kontrolle – ich hatte es geschafft. Ich musste ein paar Tage in ein Auffanglager, wo die Flüchtlinge von den Beamten der drei westlichen Besatzungsmächte „durchleuchtet“ wurden, dann wurde ich in ein Lager nach Uelzen ausgeflogen – es war der erste Flug in meinem Leben – und durfte danach zu meinem Bruder nach Hamburg reisen. Ich kam mir vor wie in einem ganz anderen Jahrhundert, als ich über die Grenze nach Westen kam und dann Hamburg erlebte. In Hamburg trat ich ein Jahr später das dreijährige Studium zur Bibliothekarin an.
Nach Abschluss meines Studiums 1964 heiratete ich, trat meine erste Stelle als Bibliothekarin an und bekam ein Jahr später mein erstes Kind und schon im nächsten Jahr das zweite. Vier Jahre später konnte ich mit einer halben Stelle in meinen Beruf zurückkehren. Es war die aufregende Aufbruchszeit der 68-er Jahre und meine Töchter gingen in den nächsten drei Jahren in einen von uns gegründeten Kinderladen, in dem wir als Eltern auch unsere antiautoritären Dienste und Diskussionen hatten.
Meine Familie kämpfte im Osten um den Bestand unserer Fabrik. Aufgrund von Eisenerzvorkommen gab es in Schmalkalden viele metallverarbeitende Betriebe, die sich aus dem Handwerk heraus entwickelt hatten. Seit der Gründung der DDR als Arbeiter- und Bauernstaat wurden diese entweder zu VEB-Betrieben oder für die Besitzer, wie meinen Vater, wurde es immer schwieriger, den Betrieb zu führen. Steuergesetzgebung, schwierige Materialbeschaffung, Schikanen, schließlich 50 % Staatsbeteiligung ließen immer weniger Spielraum. Schon 1953 überlegte mein Vater, ob es noch Sinn mache zu bleiben. Aber erst nach weiteren Jahren des Haderns, Abwägens und Vorbereitens verließ der Rest meiner Familie – von der Leipziger Messe aus – 1961 ebenfalls den Osten. (Siehe dazu den Brief des Vaters vom 15. April 1953)
Im Westen ging meine Mutter in Stellung und mein Vater versuchte erneut etwas Eigenes aufzubauen und eröffnete schließlich eine kleine Reinigung in Nienburg an der Weser, in der dann beide arbeiteten.
Vor dem Mauerfall war ich lediglich nur zwei Mal mit einer Aufenthaltsgenehmigung in der DDR. Einmal mit meinen kleinen Kindern bei Verwandten und einmal im März 1989 mit meinen Brüdern zum Todestag unserer leiblichen Mutter. Lediglich mein ältester Bruder bejahte die Frage, ob er wieder zurückkehren würde, wenn es die Mauer nicht mehr gäbe, nicht ahnend wie bald sie fallen würde. Er zog nicht wieder nach Schmalkalden, erhielt die Fabrik aber als Eigentum zurück. Er hatte jedoch leider mit seinen jahrelangen Versuchen die Fabrik zu erhalten keinen Erfolg. Heute steht auf dem ehemaligen Gelände der Fabrik eines der bundesweit üblichen Einkaufszentren eines Investors. Mein Vater hat den Fall der Mauer leider nicht mehr erlebt.
Auf die Frage, ob ich ein glückliches Leben hatte, kann ich sagen: Mein Leben habe ich nicht als leicht empfunden, aber ich habe versucht das Beste daraus zu machen und auch wenn ich an meine Grenzen gestoßen bin, kann ich sagen, dass ich stolz auf mich sein kann. Ich habe mein Leben gelebt, wie es kam und im Nachhinein hätte ich sicher Vieles anders machen können, aber es ist so, wie es ist und ich habe es so gut gemeistert, wie ich konnte, woran ich gewachsen bin.
In dem Interview berichtet meine Oma Edith Kruse, über ihre Kindheit ohne ein festes Zuhause, weit ab von ihrer Familie. Über schreckliche Erlebnisse, wie Bombenangriffe sowie den Verlust von geliebten Menschen. Stets auf der Flucht, ohne zu wissen, was morgen passiert. Nach langer Zeit nach Hause kommen und nichts ist mehr wie es einmal war.
Ich habe in dieser Zeit viele Maßnahmen ergriffen, mich von Freunden getrennt, Koffer gepackt und schon die halbe Wohnung aufgelöst, um für den Tag der Ausreise vorbereitet zu sein. Die Ungewissheit, wann es soweit ist, war immer da; denn dies wurde durch ein Telegramm von einem Tag zum anderen mitgeteilt.
„Die Ärztin war entsetzt, als sie meine Schultern sah. Ich kann mich sogar gut daran erinnern, dass sie angefangen hat zu weinen.“
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können