Ich befrage Frau O. (50), die 1971 gemeinsam mit Ihrem Mann aus der DDR in den Westen geflohen war.
Warum sind eigentlich Menschen aus der DDR geflohen, “abgehauen” in den Westen?
Da muss man einen Blick in die Geschichte tun.
Nachdem Deutschland den Krieg 1945 verloren hatte, wurde es in Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin in Sektoren Die westlichen Besatzungsmächte Amerika, England und Frankreich unterstützten die Entwicklung einer demokratischen Bundesrepublik.
Die sowjetische Besatzungszone mit seiner Hauptstadt Ostberlin wurde zur DDR und entwickelte sich zu einem Teil des kommunistischen Ostblocks. Die Grenze zwischen Ost und West verlief also durch Deutschland. Man nannte sie auch den “Eisernen Vorhang”. Viele Menschen im Osten wollten aber lieber im Westen leben, angelockt von Demokratie, Freiheit oder auch dem größeren Lebensstandard. Bis 1961 konnte man noch über Berlin in den Westen gelangen. Millionen von Menschen ließen alles zurück Freunde, Familie, Besitz- und gingen in die Bundesrepublik . 1961 errichtete die DDR eine Mauer, die Ostberlin und damit die DDR vollständig von Westberlin und der Bundesrepublik abriegelte. Mauer, Schießanlagen, Minen, Sperrgebiete konnten nur noch von wenigen überwunden werden und legale Ausreisen gab es kaum.
Doch schnell erfanden die Menschen die aberwitzigsten Fluchtmöglichkeiten:
Wenn die Flucht allerdings fehlschlug, landete man für Jahre im Gefängnis. Die Bundesregierung kaufte in diesen Jahren Tausende regelrecht aus DDR-Haft frei.
Und wie war nun Ihre persönliche Geschichte ? Warum sind Sie kurz nach Beendigung Ihres Studiums aus der DDR geflohen?
Wir sind beide in der DDR aufgewachsen und haben dort studiert. Die Studienzeit erlebten wir relativ locker. Aber mit Ende des Studiums erhöhte sich der Druck durch Partei und Stasi. Schon eine Anstellung an der Uni war eigentlich nur bei gleichzeitigem Eintritt in die SED möglich.
Als ein Freund in den Westen „abhaute“, sollte ich praktisch „zur Bewährung“ als Zugführer und Propaganda-Chef für die vormilitärische Ausbildung an der Uni arbeiten, die auch jede Studentin abzuleisten hatte. Ich hätte also in Uniform marschierende Frauen kommandieren und in einer Lagerzeitung für die Partei Propaganda machen müssen. Eine unerträgliche Vorstellung.
Zur gleichen Zeit kam mein Freund und jetziger Mann in seiner Studienstadt Rostock in eine ähnliche Situation: Man hatte in seinem Schreibtisch einen „Spiegel“ gefunden und versuchte ihn damit zur Mitarbeit bei der Stasi zu erpressen.
Als Freunde aus dem Westen sich erboten, uns zu helfen, entschlossen wir uns zur Flucht.
Wie wurde denn so etwas geplant ?
Natürlich durfte niemand etwas merken. Man wäre sofort verhaftet worden, denn schon die Planung war strafbar. Auch die Familie und die Freunde mussten geschützt werden, denn sie hätten ebenfalls wegen Beihilfe verhaftet werden können. Also monatelang heimlich alles vorbereiten, Abschied nehmen, sich von allem trennen – von allem, was man besitzt, den Freunden – und natürlich von der Familie.
Wann man sie wieder sehen würde, stand in den Sternen.
Dann vertrauten wir uns den im Westen ausgearbeiteten Fluchtplänen an.
Wir reisten über Prag und Budapest nach Rumänien. Wir konnten uns schon denken, dass wir versuchen sollten, nach Jugoslawien zu gelangen, denn dies war das einzige Ostblockland, das seine Grenzen nicht genau kontrollierte. Wir dachten an falsche Papiere, aber man hatte zwei Pkw so umgebaut, dass man jeweils einen Menschen darin verstecken konnte. Es waren auch zwei Fahrer gefunden worden, die die Gefahren und Strapazen auf sich nahmen. Wir trafen unsere Fluchthelfer, versteckten uns in den Wagen, fuhren Richtung Grenze. Dort endete – zumindest für mich – erst mal der Traum vom Westen.
Aus der endlosen Schlange der Autos wurden gerade unsere herausgewinkt, durchsucht, und ehe ich mich versah, hatte man mein Versteck gefunden, mich herausgezogen und samt Fahrer ins Untersuchungsgefängnis gebracht. Das Auto meines Mannes wurde ebenfalls auf den Kopf gestellt, aber als man ihn nicht fand, musste man das Auto fahren lassen.
Was für eine Situation: ich im rumänischen Gefängnis, mein Mann offensichtlich im Westen.
Zunächst war es natürlich ein Schock:
Rumänien ein bitterarmes totalitäres Land mit entsprechenden Gefängnissen.
Primitivste Verhältnisse, enge Zellen mit sechs Betten, jeweils belegt mit zwölf Frauen, ein Holzkübel als „Toilette“.
Fußlappen, gestreifte Kleidung, die man einmal in der Woche unter der Dusche waschen konnte,
Zwölf Stunden Arbeit in praller Sonne auf dem Feld.
Nach zwei Wochen ein Prozess, in Rumänisch, nicht mal das Urteil wird übersetzt. Etwa 30 Flüchtlinge werden gleichzeitig abgeurteilt. Da die Rumänen sowieso mehr an Westgeld interessiert sind als an uns, lautet das Urteil auf etwa eineinhalb Jahre Gefängnis oder Geldstrafe in Höhe von ca. 10 000 DM.
Freunde im Westen trieben die Summe auf und kümmerten sich gleichzeitig um eine neue Fluchtmöglichkeit – denn die Zahlung ermöglichte nur die Entlassung aus dem Gefängnis, der Westen blieb weiterhin verschlossen.
Also, neuer Versuch: dieses Mal über die „grüne Grenze“, d. h. übers Feld, bei Nacht. Ich bin wahrhaftig kein Held und war heilfroh, mit vier weiteren Flüchtlingen unterwegs sein zu können.
Es war auch so abenteuerlicher, als mir lieb war.
Bei Nacht und Nebel durch ein Maisfeld, bis man nach Kilometern im Morgengrauen das Auto der westlichen Fluchthelfer findet. Immer in Angst vor Grenzern und Hunden.
Schließlich glücklich im Auto nach Belgrad, in die Deutsche Botschaft. Dort stellte man uns falsche „echte Pässe“ aus, denn nach bundesrepublikanischem Recht waren wir Bundesbürger.
Aufgeregt hielten wir bei der Fahrt über Österreich nach Deutschland unsere heiß erkämpften Westpässe in der Hand, aber die Grenzbeamten winkten uns nur durch.
Und wie ging es dann in der Bundesrepublik weiter?
Jeder Flüchtling hatte sich im Aufnahmelager Gießen zu melden, wo er erst mal nachrichtendienstlich überprüft wurde. Man wollte schon gern wissen, ob die Angaben stimmten, die man zu Person und Herkunft machte. Dann erhielt man echte „echte Pässe“, erhielt erste Hilfen, konnte mit der Arbeitssuche beginnen, und sich ein neues Leben aufbauen.
Hat diese Flucht für Sie gebracht, was Sie erhofft habt?
Für uns kann ich diese Frage absolut bejahen. Wir hatten erträumt, frei und ohne politische Zwänge zu leben und zu arbeiten, wollten reisen, das lesen, was wir wollten, das wählen, was wir für richtig hielten:
Ich glaube, man kann nirgendwo auf der Welt immer nur tun, was man will, überall ist man Zwängen unterworfen. Aber in einer freien demokratischen Gesellschaft kann man “nein” sagen, notfalls weggehen, kann sich kritisch äußern. Darüber hinaus hatten wir sehr viel Glück. Wir hatten gute Freunde, die uns halfen. Wir haben gute berufliche Möglichkeiten gefunden, konnten viel reisen, und viele unserer Vorstellungen verwirklichen.
Haben sie Ihre Entscheidung irgendwann mal bereut?
Ich kann ganz entschieden sagen: nein.
Ich bin sehr oft gefragt worden, ob mir der Preis, alle und alles zu verlassen, nicht zu hoch geworden wäre.
Natürlich war es ein hoher Preis, den wir zahlen mussten. Doch mir war zu jedem Zeitpunkt klar, dass es ein viel höherer Preis gewesen wäre zu bleiben, sich zu arrangieren, oder sogar mitschuldig zu werden, so wie es meine “Propaganda-Tätigkeit” mit sich gebracht hätte.
Gerade die Wende hat mir bestätigt, dass jeder den Preis zahlen muss für den Weg, den er einschlägt. Auch Bleiben und sich Arrangieren hatte seinen Preis.
Ich kenne durch meine eigene Geschichte die Geschichte vieler Flüchtlinge: viele haben ihr Leben hier so erlebt wie ich, aber manche haben den Sprung auch nicht so gut verkraftet: manche blieben fremd im anderen Land, hatten nicht so viel Glück im Beruf, hatten Heimweh …
Es konnte auch nicht jeder fliehen, vielen bot sich nie die Möglichkeit oder ihre private und berufliche Situation ließ es nicht zu.
Ich bin immer dankbar gewesen, dass ich diese Möglichkeit hatte. Natürlich war es für mich besonders bewegend, die Wende 1989 zu erleben.
In vielen Zeitschriften gab es auch Artikel, in denen geschrieben stand, was die perfekte Hausfrau zu tun und zu lassen habe. Dort stand zum Beispiel auch, dass die Frau sich hübsch machen sollte, bevor der Mann kam, dabei aber keine Reize zeigen sollte. Sie sollte dem Mann alles bringen, worum er bat und nichts hinterfragen, was der Mann gemacht hat. Sie sollten sich ihrem Mann einfach fügen.
Feldpostkarten und Briefaustausch zwischen Soldaten, Freunden und Familie im Kriegsjahr 1915.
Mit der Zeit begannen sie, nicht nur in ihren Familien zu rebellieren, sondern beteiligten sich auch an öffentlichen Demonstrationen, nicht zuletzt gegen Staatssanierungen und dergleichen …
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können