Ein Interview mit meiner Tante (*1961)
Im Alter von 11 Jahren erkrankte ich an Tuberkulose, einer Lungenkrankheit. Die Ärztin schickte mich für ein halbes Jahr auf Kur ins Allgäu, an den Bodensee. Mein Aufenthalt war dort von Januar 1973 bis Juli 1973. Vorher sagte man mir, ich würde nur drei Monate dort bleiben. Doch als ich mich mit anderen Kindern ausgetauscht habe, haben sie mir erzählt, dass manche schon ein Jahr hier wären. Dies war für mich eine riesige Enttäuschung, zu erfahren, dass fast jeder eine Verlängerung bekäme. Diese Lungenheilanstalt wurde von sehr strengen Nonnen und ein paar Lehrern geführt. Alle Kinder dort hatten entweder eine Lungenkrankheit oder Asthma. Sie waren zwischen 10 und 14 Jahren alt. Auf der großen Anlage waren Jungs und Mädchen getrennt und, sobald eine Nonne dich mit einem Jungen gesehen hat, auch wenn ihr euch nur auf dem Flur zufällig begegnet seid, wurde man als „Schlampe“ bezeichnet. Es gab dort ebenso eine Schule, wo Jungs und Mädchen gemischt unterrichtet wurden, damit sie den Anschluss an zuhause nicht verlieren. Es wurden die Fächer Mathematik, Deutsch, Erdkunde, Englisch, Biologie, Werken und Religion unterrichtet. Ich erhielt aus dieser Zeit sogar ein Zeugnis. Für mich war die Schule recht einfach, weil ich auf einem Gymnasium war, und dort gab es keine Niveaustufen.
Der Tagesablauf war fast immer derselbe: Um 07:00 Uhr wurden wir geweckt und es wurde Fieber gemessen. Danach folgte das Bettenmachen und Anziehen. Um 08:00 Uhr wurde gemeinsam gefrühstückt und bis 12:00 Uhr besuchten wir die Schule. Anschließend gab es Mittagessen, z.B.: Linsensuppe, Wurst und Spätzle. Von 13:00 bis 15:00 Uhr gab es die sogenannte „Stille“. Wir sollten uns auf die Terrasse legen, alle nebeneinander, ruhig liegen bleiben und nicht reden. Wir sollten am besten schlafen, was ich aber nie geschafft habe. Wir Kinder haben untereinander Geheimsprache mit den Händen gemacht und so miteinander kommuniziert. Danach wurde bis 18:00 Uhr entweder geschrieben, gespielt, Kino geguckt oder man ist spazieren gegangen. Nach dem Abendessen mussten wir ab 20:00 Uhr auf die Zimmer und um 21:00 Uhr musste das Licht ausgeschaltet sein.
Zuerst war ich mit sieben anderen Mädchen in einem Zimmer. Es nannte sich das „Schwabenzimmer“. Es gab zwei Fenster, einen Tisch mit Stühlen und ein Waschbecken. Im späteren zweiten Zimmer hatte ich vier Zimmergenossinin
Jeden Dienstag- und Sonntagmorgen besuchten wir die heilige Messe und jeden Mittwoch war Badetag, dabei wurden wir von den Nonnen gewaschen. Jeden Mittwoch und Freitag war je eine halbe Stunde Schwimmen angesetzt. Jeden Donnerstagabend war die „heilige Stunde“, in der wir zur Beichte gehen mussten. Das habe ich nie verstanden, denn was sollten wir in unserem Alter beichten? Dass wir heimlich genascht haben?
Jeden Sonntag war Besuchszeit. Wir haben alle zusammengesungen und nach und nach wurden die Kinder von ihren Eltern abgeholt. Einer der wenigen, die bis zum Mittagessen sang, war ich. Ich bekam nur zwei Mal Besuch in dieser Zeit. Jedoch lässt sich das damit erklären, dass mein Elternhaus sehr weit entfernt war und ich noch drei jüngere Geschwister habe.
An meinem ersten Tag war ich sehr unglücklich: Es war Nachtruhe und ich hatte ziemliches Heimweh. Die anderen Mädchen waren schnell eingeschlafen, sodass ich keinen zum Reden hatte. Ich habe daraufhin mit meinen Fingern gespielt und mit ihnen geredet. Dies hörte eine Nonne und brachte mich in das große Badezimmer. Dort wurde ich zur Strafe eingesperrt. Nach ein paar Stunden, während die anderen noch schliefen, wurde ich wieder in mein Zimmer gebracht. Dieses passierte leider noch ein paar Mal. Nach ca. 2 Monaten wurde ich dann in ein Einzelzimmer gebracht, für 6-8 Wochen. Dort schlief ich immer alleine und war weg von meinen Freunden.
Die Behandlungen waren immer sehr unangenehm. Ich habe jeden Tag viele Tabletten geschluckt und es wurde ein paar Mal eine Magenspiegelung gemacht – ganz ohne Betäubung. Die Nonne waren – wie gesagt – sehr rücksichtslos. Es gab eine Nonne, die einen großen Schäferhund besaß. Wenn die Mädchen ihre Menstruation hatten, ging der Hund ihnen unter die Röcke, weil er von dem Geruch angelockt wurde. Die Nonne hat über die ängstlichen Mädchen nur gelacht. Ich war sehr froh, dass ich noch keine Blutung hatte.
Eines Tages musste ich wieder untersucht werden. Da kam diese Nonne ins Zimmer und sagte zu mir: „Das sind aber kräftige Schenkel!“ und schlug mit der Hand auf meinen Oberschenkel. Ich hatte drei Tage lang ihren Handabdruck dort abgebildet.
Ein Erlebnis habe ich bis heute nicht vergessen und ich werde es meinen Eltern nie verzeihen: Als ich das eine Mal Besuch von meinen Eltern bekam, hat die Oberschwester meinen Eltern erzählt, wie redselig ich wäre und dass ich deswegen sogar in einem Einzelzimmer schlafen muss. Darauf fiel meinem Vater nur ein: „Wenn sie zu schlimm ist, darf sie auch eine Ohrfeige bekommen.“ Das war so eine große Enttäuschung für mich, dass meine eigenen Eltern sogar dazu die Erlaubnis geben und mir so in den Rücken fallen. Meine Mutter hat nie etwas dagegen gesagt. Aus diesem Grund habe ich meinen Eltern nie erzählt, wie die Umstände dort waren. Außerdem wollte ich dann gar nicht mehr weg aus der Kur. Ich hatte dort meine Freunde gefunden – ohne sie wäre es zu schlimm gewesen. Es gab auch keine Außenseiter, alle haben zusammengehalten. Wir haben uns Witze erzählt, gelacht und zusammen gelitten. Sie sind in der Zeit zu meiner Familie geworden. Als mein Vater und mein Bruder mich abholten, war das Erste, was meinem Vater einfiel, mich als „Nutte“ zu beschimpfen, weil ich mit meinen Freundinnen rumgekaspert habe, einen kurzen Rock trug und geschminkt war. Ich sollte mich sofort umziehen. Und das sagte er zu einer 11-Jährigen. Auf der Rückfahrt habe ich nur geweint. Mein Vater dachte sicher, dass ich vor Freude weinen würde, aber ich wollte nur wieder zurück zu meinen Freundinnen.
Zusammengefasst war das Schlimmste, dass man sich so allein gefühlt hat und wir alle wehrlos waren. Wir hatten keine Bezugsperson, wurden ständig niedergemacht und immer wieder eingesperrt. Wir waren doch alle krank! Nach der Entlassung war ich körperlich gesund, aber diese Zeit hat auch Narben hinterlassen.
Heute ist das ganze 40 Jahre her. Ich bin glücklich verheiratet, habe drei Kinder und versuche, nicht mehr an diese Zeit zu denken. Diese Art des Umgangs mit kranken Kindern, weit weg von zuhause, hat sich bis heute hoffentlich verbessert.
Ich bin nie in einem Kindergarten gewesen. In der Türkei war ich auch noch nicht in der Schule, weil ich ja noch zu jung war. Ich hatte bis dahin noch nie einen Stift in der Hand gehabt, geschweige denn, damit geschrieben. Das alles war vollkommen neu für mich. [Später] wurde ich klar in Klischees gezwängt. Alle hatten eine Vorstellung wie ein „Ausländer“ war. Dabei ist zu bedenken, dass ich nun schon 40 Jahre in Deutschland lebte.
Befragt wird Erich Albrecht, geboren ist er am 08.02.1923. Mit 17 Jahren begann Erich Albrecht eine Ausbildung als B-Dienst Funker bei der Marine. Diese Hingabe zur Marine kam aus der Familie, in dem schon bereits sein Vater in der Kaiserlichen Marine gedient hatte. Im Jahre 1944 wurde er auf dem Schiff dem schweren Kreuzer Prinz Eugen stationiert, welcher das letzte deutsche Kriegsschiff war, das den Krieg unversehrt überstand, und hörte den Funkverkehr an der Ostfront ab. Nach dem Krieg, im Jahre 1956, beschloss er zur Bundesmarine zugehen. Im Jahre 1978 ging Erich Albrecht als Kapitän Leutnant mit jeweils einem Eisernen Kreuz und einem Flottenkriegsabzeichen in die Pension.
Der zweite Weltkrieg war eines der blutigsten und zerstörerischsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte. Es gibt nur noch wenige Menschen, die erlebt haben, dass die Welt in Flammen stand, eine Welt ohne Hoffnung auf Glück, Liebe und Freiheit. Es war eine Welt, die nicht lebenswert war. Aber was passiert, wenn einem keiner mehr vor Augen führt, was der Mensch alles ertragen musste und dass es trotzdem möglich ist, wieder glücklich zu werden und wieder aufzustehen …
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können