Start in Deutschland

Dieser Eintrag stammt von Mona Fischer (*1995)

Ergebnisse eines Interviews mit A. (*1994)

 

A. kam im Jahr 2000 nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war sie erst sechs Jahre alt. Sie berichtet mir, wie ihr Leben seitdem in Deutschland gelaufen ist.

 


 

Wie wurdest du in Deutschland empfangen?

Wir kamen in Deutschland am 5. Mai. 2000 an, in einem Park in Kassel um 17 Uhr. Eigentlich sollten wir erst um 22 Uhr ausgesetzt werden. Wir waren nicht die einzigen Flüchtlinge. Als Gepäck hatten wir nur eine kleine Sporttasche mit Kleidung dabei.

 

Die anderen Flüchtlinge haben sofort den Park verlassen, während mein Vater beschloss, dass wir lieber noch 2 Stunden warten sollten. Es sollte uns keiner erwischen und wir wollten nicht auffallen. Als wir den Park um 19 Uhr verließen, bemerkten wir, dass die anderen Flüchtlinge von der Polizei aufgesammelt worden waren. Die Polizisten entdeckten uns und fragten nach unseren Ausweisen. Da wir keine besaßen und somit nichts zum Vorzeigen hatten, wurden wir ebenfalls eingesammelt. Mit einem Minibus wurden wir und die anderen Flüchtlinge zu einer Aral Tankstelle gebracht. Dort warteten wir ungefähr eine Stunde, bis ein großer Polizeibus kam und uns nach Frankfurt ins Polizeirevier fuhr.

 

Wie hast du dich gefühlt als euch die Polizei aufgesammelt hat?

Meine Schwester und ich waren erleichtert, dass wir endlich irgendwo hingefahren wurden. Wir waren beide zu jung, um Angst zu haben. Meine Eltern dagegen hatten sicher auch Angst.

 

Was passierte auf dem Polizeirevier?

Die Flüchtlinge wurden einzeln befragt, mein Vater war der Erste. Ihm wurde sein ganzes Geld abgenommen, ca. 200 – 250 Dollar, und auch alles andere, was wir besaßen. Als er wieder heraus kam, sagte er zu den anderen, dass sie ihr Geld verstecken sollen. Als er am Ende sein Geld wieder haben wollte, sagte die Polizei, dass sie davon Essen von McDonalds für die Kinder besorgt haben.

 

Wie ging es weiter?

Wir bekamen am nächsten Tag ein Zugticket und sollten damit nach Chemnitz fahren. Da mein Vater sich nicht auskannte und wir völlig auf uns alleine gestellt waren, wusste mein Vater nicht, wie wir dort hinkommen sollten. Er rief Verwandte in Berlin an, die für uns ein Taxi bestellten, das uns nach Berlin gefahren hat. Meine Verwandten mussten dafür 1.200DM bezahlen, da wir selber kein Geld mehr besaßen. Wir haben zwei Nächte bei meiner Tante übernachtet und sind dann mit der Begleitung von dem Mann meiner Tante nach Chemnitz gefahren. Er lebte schon länger in Deutschland und kannte sich gut aus. In Chemnitz wurden wir in ein Flüchtlingslager gebracht, dort befanden sich noch viele andere. Wir haben ein kleines Zimmer mit 3 Betten bekommen und durften den Umkreis von einem Kilometer nicht verlassen

 

Nach ein paar Tagen wurden meine Eltern noch einmal befragt und mussten ein paar Papiere unterschreiben. Dann wurden alle Familien und Flüchtlinge auf verschiedene Gebiete aufgeteilt, mit drei bis vier anderen Familien wurden wir nach Olbernhau gebracht. Olbernhau ist eine Kleinstadt, 40km entfernt von Chemnitz. Dort gab es zwei Wohnheime für Ausländer, wir bekamen ein Zimmer welches ca. 20m² groß war.

 

Bei unserer Ankunft erwarteten uns schon einige Familien, darunter eine afghanische Familie, die uns sehr geholfen hat.

 

Woher habt ihr Lebensmittel und Kleidung bekommen?

Wir haben gleich am ersten Tag in Olbernhau eine Essensliste bekommen und hatten einen gewissen Geldbetrag, für den wir uns Lebensmittel holen konnten. Auf dieser Liste waren verschiedene Lebensmittel aufgelistet, die wir ankreuzen konnten und zweimal in der Woche kamen dann die bestellten Sachen, d.h. wir durften nicht selber einkaufen gehen. Außerdem wurden wir einmal im Jahr mit Begleitung nach Chemnitz in einen kleinen Laden gebracht, wo wir Kleidung kaufen konnten, für einen bestimmten Betrag. Diese Listen gab es bis 2004, danach gab es Scheine. Wir haben Taschengeld auf ein bestimmtes Papier gedruckt bekommen, mit diesem konnten wir Sachen in bestimmten Läden kaufen gehen. Dazu zählten Penny, Rewe, Reno und NKD. Scheine, die innerhalb eines Monats nicht ausgegeben wurden, wurden wertlos.

 

Wie habt ihr euch in diesem „Wohnheim“ gefühlt?

Da wir nicht mehr alleine waren, also auch andere Afghanen in unserer Nähe waren, hatten wir nicht mehr so viel Angst. Die Besitzer des Wohnheimes waren auch sehr freundlich. Jedoch lebten dort auch noch viele andere Ausländer, die sehr anders waren und wir haben uns von ihnen ferngehalten. Es lebten dort sehr viele unterschiedliche Menschen, es fanden oft sehr schreckliche Ereignisse statt, z.B. Messerstechereien und Prügeleien.

 

Wie waren die Wohnverhältnisse?

Bis April 2002 lebten wir in einem Zimmer, in sehr schlechten Verhältnissen Wir mussten die Duschen, Toiletten sowie die Küche mit den anderen Ausländern teilen. Oft waren diese sehr dreckig und ekelig, wir sind auch nie alleine duschen gegangen, da wir sehr viel Angst hatten.

 

Im April 2002 wurde meine kleine Schwester geboren. Weil die schlechten Verhältnisse für ein neugeborenes Kind sehr ungesund waren, bekamen wir eine neue Wohnung im Untergeschoss. Dort hatten wir 3 Zimmer, ein eigenes Bad und eine Küche. Die Wohnung gehörte vorher einer Familie, die abgeschoben wurde. Es wurden sehr viele Familien wieder abgeschoben, deswegen hatten wir große Angst, dass uns dasselbe passiert.

 

Seid ihr zur Schule gegangen in Deutschland?

Ja, sind wir, doch weil wir erst Deutsch lernen mussten, sind wir vorerst in die Vorschule gekommen. Wir wurden jeden Morgen von einem Minibus hin- und zurückgefahren. Wir gingen in einem anderen Stadtbezirk, ca. 20 bis 25 km entfernt (Marimberg) zur Vorschule. Nach einem Jahr kamen wir in die erste Klasse der Grundschule Olbernhau.

 

Gab es Momente wo du dich in der Schule diskriminiert gefühlt hast aufgrund deiner Herkunft?

Ja, die gab es, denn Ausländer waren in Olbernhau/Sachsen nicht sehr beliebt.

 

Wir sind jeden Morgen mit dem Bus in die Schule gefahren. In den Bussen haben wir dann keinen Platz mehr bekommen und wurden von den Deutschen geärgert. Sie haben uns beschimpft, geschubst und geschlagen. Die Busfahrer haben es einfach ignoriert und wir konnten nichts dagegen machen, da es meist ältere Schüler waren.

 

In der Schule hatten wir keine Freunde und wurden von den anderen Schülern ausgegrenzt. Wir trauten uns nicht, uns am Unterricht zu beteiligen und hielten uns auch von den anderen fern. Zum Glück war ich mit meiner Schwester in einer Klasse und so konnten wir uns gegenseitig helfen. Wir hatten die ersten zwei Jahre große Schwierigkeiten. Ab der dritten Klasse wurde es besser, dort sprachen wir schon gut Deutsch. Wir haben uns mit unseren Mitschülern angefreundet und wurden auch von den meisten gemocht. Es gab trotzdem noch Schüler, die sich von uns ferngehalten haben, vor allem, weil ihre Eltern keine gute Meinung Ausländern gegenüber hatten. Unsere Lehrer dagegen waren immer sehr freundlich. Insgesamt hatten wir keine besonders schöne Grundschulzeit. Ab der fünften Klasse haben wir uns aber mehr integriert und haben angefangen, uns zu wehren. Von da an waren wir nicht mehr die „Außenseiter“.

 

Durftet ihr verreisen oder eure Verwandten besuchen?

Ja, jedoch nicht länger als eine Woche. Wir durften Deutschland natürlich nicht verlassen, auch wenn wir unsere Verwandtschaft besuchen wollten. Innerhalb von Deutschland durften wir nur verreisen, wenn wir mindestens 3 Wochen vorher einen Antrag gestellt hatten und genau angegeben haben, wohin und wie lange wir Urlaub machen. Wir haben uns allerdings sehr alleine gefühlt und unsere Verwandten sehr vermisst, deswegen sind wir meist länger als eine Woche geblieben. Ähnlich war es auch, wenn unsere Verwandten uns besuchten, man musste im Voraus angeben, wie viele Personen für wie lange bleiben. Pro Person und Nacht mussten wir 30 Euro bezahlen. Da wir kein Geld dafür hatten, kam unsere Verwandtschaft meistens in der Nacht und fuhr auch in der Nacht zurück. Wir haben versucht, so lange wie möglich unseren Besuch versteckt zu halten.

 

Andere Familien haben aber auch illegal gehandelt, manche sind sogar nach London und Holland verreist, natürlich war dies nicht erlaubt, da sie keinen Pass besaßen.

 

Was taten deine Eltern in dieser Zeit und was hattet ihr für eine Aufenthaltserlaubnis?

Meine Eltern durften weder arbeiten noch einen Deutschkurs besuchen, weil das Asylverfahren noch am Laufen war. Dies war sehr belastend für meine Eltern. In Afghanistan hatten sie angesehene Berufe, sie waren beide Lehrer. Vor allem als Frau, ist dies ein besonderer Erfolg, unsere Eltern haben sehr viel aufgegeben für uns.

 

Im Jahr 2007 gab es dann ein neues Gesetz, das besagte, wer sich mindestens für 6 Jahre selbstständig macht oder arbeitet, darf in jedes Bundesland ziehen.

 

Daraufhin haben sich meine Eltern beide einen Job in Hamburg gesucht und so durften wir umziehen. Wir sind im Juli 2007 nach Hamburg gekommen und lebten dort ein Jahr lang in einer Ausländerunterkunft, bis wir eine Wohnung gefunden haben.

 

Konntet ihr eure Religion frei ausüben?

Nein, in Olbernhau hatten wir kaum Möglichkeiten, unsere Religion auszuüben. Das lag daran, dass es keine Moscheen gab und unsere Religion dort nicht akzeptiert wurde. Unsere Eltern unterrichteten uns zum Teil in unserer Sprache. Erst als wir in Hamburg waren, konnten wir die Moschee besuchen. Wir lernten dort auch das Lesen und Schreiben in unserer Sprache.

 

Welche Meinung hast du, bzw. deine Familie, zu Deutschland?

Ich war sehr jung als wir nach Deutschland kamen, ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine Vorstellung von Deutschland, wie man hier zum Beispiel lebt. Meine Eltern jedoch hatten sich etwas anderes vorgestellt. Sie dachten, sie könnten Deutsch lernen und arbeiten. Sie haben sehr viel gelitten und konnten sich am Anfang keine Zukunft in Deutschland vorstellen. Sie konnten die deutsche Sprache nicht, durften sie aber auch nicht erlernen. Sie hatten dadurch sehr viele Schwierigkeiten, z.B. mussten sie immer einen von uns zu Arztbesuchen mitnehmen, als Dolmetscher. Es war schlimm für sie in einem fremden Land zu leben und sich nicht integrieren zu dürfen, darunter leiden sie zum Teil heute noch. In Afghanistan waren sie Lehrer, sie wissen, dass sie sehr viel verloren haben. Jedoch waren sie auch glücklich, dass wir in Sicherheit leben und zumindest wir, ihre Kinder, hier gebildet werden und eine Zukunft haben können. Das schlimmste für sie wäre, wenn uns das gleiche passieren würde, wie ihnen. Meine Eltern sagen immer, wenn wir glücklich sind, dann sind auch sie glücklich.

 

Wir haben in Deutschland zwar in Sicherheit gelebt, aber nicht in Ruhe. Trotzdem sind wir dankbar, denn es gibt Schlimmeres.

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