Stadtteilschule Bergedorf

Die Flucht eines Neunjährigen aus Vorpommern

Dieses Interview wurde von Jaqueline Busch mit Arnold Hein am 17. Juli 2017 geführt.

Hallo, ich bin Arnold Hein, 82 Jahre alt und komme aus Vorpommern. Als ich neun Jahre alt war, sind meine Familie und ich mit Pferd und Wagen vor den Russen geflüchtet. Wir sind damals von einem Ort zum anderen Richtung Westen gezogen, da die Russen schon bis zu unserem Dorf in Vorpommern vorgedrungen waren.

 

Was genau geschah auf eurer Flucht?

Es war Anfang März 1945 und alle Bewohner in unserem Dorf hatten schon gepackt und auch wir haben uns dann auf den Weg gemacht. Wir sind hauptsächlich nachts gefahren, da am Tage die Russen schon in unserem Dorf geschossen hatten. An dem Ort, an dem wir übernachtet hatten, wurden schon morgens am Ortseingang und -ausgang die Häuser in Brand gesetzt. Man hat vermutet, dass die Russen dies getan hatten, damit wir keine Möglichkeit mehr bekamen zu fliehen. Wir haben es trotzdem geschafft. Wir hielten uns immer dicht an der Küste Richtung Stettin. Das war unser Ziel.

 

War vom Krieg etwas in Ihrem Heimatdorf zu spüren?

Bei uns wurde ja schon rüber geschossen und die Jungs waren ja auch neugierig und wollten schauen, was da passiert. Deswegen haben sich die Eltern immer viele Sorgen gemacht.

 

Habt Ihr einen Angriff miterlebt?

Ich selber habe keinen Angriff miterlebt, jedoch meine Frau Irmtraud. Sie ist in Hamburg Harburg aufgewachsen und hat einen Bombenangriff miterlebt. Vor dem Haus ihrer Eltern ist eine Bombe eingeschlagen. Alle haben geschrien und hatten riesige Angst. Sie sind dauernd in den Keller gelaufen, um Schutz zu suchen und haben sich nachts komplett angezogen ins Bett gelegt, damit sie jederzeit loslaufen konnten.

 

Wurdet Ihr damals mit der SS konfrontiert?

Ja. Kurz vor Stettin an der Autobahn mussten wir abzweigen, um über die Oder zu kommen. Dort wurden wir von der SS kontrolliert. Die haben jeden einigermaßen gesunden Menschen aus dem Treck (Wagen) herausgeholt, um diese an der Front einsetzen zu können. Wir hatten jedoch Glück, da mein Vater verwundet war, konnte er weiterfahren. Mein Opa hatte sich im Wagen unter den Bettdecken versteckt, wodurch die SS ihn nicht gefunden hat. Danach sind wir dann schnell über die Oder und hatten erstmals Ruhe.

 

Wie habt Ihr dann im Weiteren die Flucht überlebt?

Nachdem wir über die Oder geflohen waren, sind wir bei einer Freundin von meiner Mutter untergekommen. Da konnten wir uns dann erstmals von unten bis oben frisch machen und es gab das erste Mal wieder richtig Mittagessen. Von dort aus ging es weiter, immer an der Ostseeküste entlang, über Greifswald, Rostock, Wismar, Lübeck, Bad Oldesloe bis nach Schleswig-Holstein, alles zu Fuß. Dort wurden wir dann bei einem Bauern einquartiert. Ein Zimmer oben auf dem Boden. 20qm mit 5 Personen. Meine Eltern haben bei dem Bauern im Frühjahr geholfen. Meine Mutter hat die Kühe gemolken und mein Vater hat auf dem Land gearbeitet. Geld gab es nicht, aber dafür haben wir gut gegessen. Es gab hauptsächlich Milch und Kartoffeln. Also Milchsuppe und Bratkartoffeln, ab und zu auch mal ein Stück Fleisch.

 

Wie hat sich der Krieg auf den Alltag und auf die Familie ausgewirkt?

Wir waren froh, dass wir in Schleswig-Holstein gelandet waren und von dem Krieg nicht mehr viel mitbekommen haben. Vor allem meine Eltern, aber auch wir Kinder waren froh in Sicherheit zu sein. Ausgewirkt hat sich das jedoch schon sehr auf unser Familienleben, als Kind flüchtet man ja nicht jeden Tag von Vorpommern nach Schleswig-Holstein unter diesen Bedingungen…

 

Haben Sie (du) Angehörige im Krieg verloren? [1]

Nein.

 

Kannst du mir dein prägenstes Ereignis deiner Kindheit erzählen?

Ja, auf der Flucht von Vorpommern nach Schleswig-Holstein: Wir waren 5 Kinder, ich war der Älteste, mein kleinster Bruder war erst 2 ½ Jahre und die Kinder von meiner Tante. Auf einmal hat der Älteste von den Kindern meiner Tante gesagt: “Ich habe ein Kribbeln in meinen Füßen, ich glaube da sind Mäuse drinnen“.  – Das war ein Erlebnis, weil wir uns alles Mögliche dachten, was mit seinem Fuß sein könnte. Am Schluss haben wir aber erleichtert festgestellt, dass nur sein Fuß eingeschlafen war. – Ich glaube, das Ereignis ist besonders, weil es in dieser schweren Zeit etwas Leichtes hatte.

 

Hast du Erinnerungen an die Rote Armee?

Ja, wie gesagt, befanden wir uns auf der Flucht, als bei dem Angriff auf der Autobahn plötzlich um uns herum die Situation gefährlich wurde. Das war die rote Armee. Das war das Einzige, was wir mitbekommen haben. Die war ja mehr im Osten Deutschlands (dem Gebiet der späteren DDR) unterwegs, hier in den westlichen Gebieten hat man davon nicht viel mitbekommen und die Alliierten kamen friedlich zu uns, während die Russen sich auch an den Deutschen rächten.

 

Hast du als Junge schon etwas über die Problematik der jüdischen Bevölkerung vor oder während Eurer Flucht mitbekommen?

Als wir noch vor der Flucht in unserem Dorf in Vorpommern lebten, hatten wir in unserem Nachbarort eine jüdische Familie mit einem kleinen Lebensmittelladen. Dort sind meine Eltern immer einkaufen gegangen und wir wurden auch immer sehr freundlich bedient, aber plötzlich war Schluss. Auf einmal waren sie nicht mehr da und ich wusste nicht warum. Ich war ungefähr neun Jahre alt. Wir Kinder wurden immer freundlich begrüßt und bekamen Bonbons oder andere Süßigkeiten. Doch mit einem Mal war Schluss und es wurde auch nicht mehr darüber gesprochen, weshalb die Familie jetzt weg war. Man hat es einfach „tot geschwiegen“.

 

Da habe ich eine Frage: Hast du etwas von den Konzentrationslagern gewusst?

Nein, überhaupt nicht, ich war neun Jahre alt. Auch in unserem Dorf hat man davon nichts zu hören bekommen.

 

Würdest du sagen, dass heute der Antisemitismus noch weit verbreitet ist?

Das ist auch heute ein schwieriges Thema: Weit verbreitet ist wohl übertrieben, aber es ist immer noch in den Hinterköpfen der Menschen. Die Bevölkerung ist einfach nicht ordentlich genug aufgeklärt.

 

Wie habt Ihr das Kriegsende und die Zeit danach miterlebt?

Es wurde eine relativ große Wohnung neben dem Bauernhof frei, dort sind wir dann eingezogen.

 

In dem Ort Hanerau-Hademarschen haben wir dann das Kriegsende miterlebt.

 

Es kamen die Engländer mit Panzern in den Ort gefahren. Soldaten waren weiter keine da. Niemand hat sich mehr zur Wehr gesetzt. Wir Kinder sind auf die Straßen gelaufen und haben geschaut, was passiert. Zum ersten Mal haben wir damals  dunkelhäutige Soldaten gesehen. Diese waren sehr freundlich zu uns und haben alles verteilt, was sie hatten, wie zum Beispiel Kekse oder Kaugummi.

 

In diesem Ort bin ich später dann auch in die Schule gekommen. Hier war es wichtig Plattdeutsch sprechen zu können, um anerkannt zu werden. Ich habe Fußball gespielt und wurde später auch in diesem Dorf konfirmiert.

 

Was denkst du heute, wenn du das Wort „Krieg“ hörst?

Dass die Leute nicht vernünftiger geworden sind. Zum Beispiel, was jetzt gerade in Syrien passiert.  Da wird alles wieder zerbombt und die ganzen Flüchtlinge, das Leid ist so groß wie damals. Die Menschheit hat meiner Ansicht nach nichts dazu gelernt.

 

Was kannst du uns jungen Leuten aus dieser Zeit als Lehre mit auf den Lebensweg geben?

Das ihr darauf achtet so friedlich wie möglich durchs Leben zu kommen. Zufrieden zu sein und zu erkennen, wie gut es euch geht und wie gut ihr aufwachst. Ihr lebt in Saus und Braus. Ihr habt ja alles. Im Grunde kann es euch gar nicht bessergehen! Lebt in Frieden und im Frieden!

 


[1] Die Geschichte berührte mich so sehr, dass ich an diesem Punkt erst gar nicht merkte, dass ich vom du zum Sie wechselte. Daher wollte ich das einmal so zum Ausdruck bringen, um zu zeigen, wie sehr mich diese Geschichte berührt hat.

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