Mein Großvater erlebte die ersten Jahre des Zweiten Weltkrieges als kleiner Junge im damaligen Ostpreußen. Er wurde 1934 in der Nähe von Königsberg geboren und wuchs zusammen mit seinem Vater, seiner Mutter und seinem älteren Bruder auf einem Bauerngut auf. Sein Vater wurde zu Beginn des Krieges in die Armee eingezogen und musste somit seine Frau und seine zwei Söhne allein zurücklassen. Mein Großvater, der heute 83 Jahre alt ist, wird in diesem Interview über seine Erlebnisse, seine Flucht und wie er seine Familie verlor berichten.
Ich war ein sehr vernünftiges Kind und wurde liebevoll von meiner Mutter und meinem Vater großgezogen. Ich und mein Bruder Dieter genossen unsere behütete Kindheit in vollen Zügen. Doch diese heile Welt zerbrach für uns schneller, als wir dachten. Die erste Begegnung mit dem Krieg war 1939, da müsste ich etwa fünf Jahre alt gewesen sein. Deutsche Soldaten kamen zu uns auf den Hof und fragten meine Mutter, ob sie ihre Küche bei uns aufbauen dürfen, da sie wahrscheinlich von weiten unsere Wasserpumpe gesehen haben. Meine Mutter, herzlich, wie sie war, erlaubte es ihnen und brachte den Männern, die schon ziemlich hungrig aussahen, einen großen Korb voller Gemüse, ein großes Stück Speck und drei Kannen frische Milch. Du glaubst gar nicht, wie sehr sie sich darüber gefreut haben. Der ganze Hof roch, nachdem sie mit dem Kochen fertig waren, nach Kartoffelsuppe und auch wir Kinder und meine Mutter aßen mit. Es war sehr lecker, fast besser als die von meiner Mutter, aber das habe ich lieber für mich behalten (lacht). Noch am selben Tag verließen die Soldaten unser Grundstück und marschierten weiter. Wo sie hin wollten, wusste ich damals nicht. Das alles ereignete sich vor dem Einmarsch nach Russland.
Eines Tages wollte meine Mutter in die Stadt fahren, um etwas Geld zu verdienen. Da wir ja ein paar Nutztiere hatten und wir auch geschlachtet haben, verkaufte meine Familie des Öfteren Fleisch in der Stadt. Also beschloss meine Mutter, sich auf den Weg nach Königsberg zu machen. Ich und mein Bruder blieben zuhause, da meine Mutter es als zu gefährlich empfand, uns mit in die Stadt zu nehmen. Man muss wissen, dass damals in Königsberg täglich Bombendrohungen herrschten. Meine Mutter verabschiedete sich von uns und versprach, dass sie am späten Abend wieder zurückkehren würde. Dieses Versprechen konnte sie jedoch nicht halten, da der Bahnhof in Königsberg von einer Bombe getroffen und komplett zerstört wurde. Und da nun kein Zug mehr fahren konnte, hatte meine Mutter keine Möglichkeit nach Hause zu kommen.
Ich kann mich noch ganz genau an den Moment ersinnen, als bei uns das Telefon klingelte und meine Mutter dran war. Sie war völlig aufgelöst und erklärte uns unter Tränen, dass sie am nächstem Morgen wiederkommen würde und wir uns keine Sorgen machen sollten. Die ganze Nacht waren ich und mein Bruder wach. Wir hörten von uns zuhause die Bomben, die in Königsberg fielen und sahen den Himmel immer wieder aufleuchten. Es war einfach schrecklich zu wissen, dass unsere Mutter noch dort war. Plötzlich haben die Scheiben unseres Hauses angefangen zu wackeln und wir hörten schreckliche Schreie von draußen. Spätestens jetzt war uns klar, dass die Russen nun auch zu uns kommen würden. Bisher war unser kleines Dorf immer verschont geblieben, da sie es eher auf die Städte abgesehen hatten.
Es kamen drei Soldaten, die bei uns einquartiert waren, rein und schrien: „Ihr müsst hier sofort weg.Packt eure Sachen!“ Als ich diesen Satz gehört hatte, brach ich in Tränen aus und dachte nur an meine Mutter. Ich bat den Soldaten hier bleiben zu können, da ich ja mit Dieter auf unsere Mutter warten wollte. Doch der Soldat hörte nicht auf mich, ihm muss schon klar gewesen sein, dass sie nicht mehr wiederkommen würde. „Mein Junge, ihr habt dafür keine Zeit mehr, der Feind nähert sich und wird weder Frau noch Kind verschonen!“, sagte er mir damals. Wir haben das Notwendigste gepackt und sind dann rausgerannt.
Unser Vieh, welches sich von den lauten Fliegergeräuschen fürchtete, lief von unserem Hof auf die naheliegenden Felder. Die Soldaten haben sie freigelassen, damit sie eine Chance hatten zu überleben. Da wusste ich, dass die Bomben auch unseren schönen Hof treffen würden. Wir sind dann vom Hof runter und rannten auf die Felder. Der Himmel war voller Flugzeuge, es lagen Tote auf den Straßen und Häuser brannten. Wir sind dann erstmal mit den Soldaten mit. Als wir die Straße runtergelaufen sind, sah ich am Straßenrand einen halbtoten Soldaten an einem Graben liegen. Er muss so 16-17 Jahre alt gewesen sein. Er lag in einer riesigen Blutlache und schrie vor Schmerz. An seinem Bauch konnte ich eine große Schusswunde erkennen, dann sah ich, dass ihm auch ein Bein fehlte. Ich rannte zu ihm runter,um ihn besser sehen zu können. Die Tränen liefen mir bei diesem Anblick nur so übers Gesicht. Er war voller Blut. Sowas Schreckliches hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.
Als die Soldaten und mein Bruder bemerkten, dass ich von der Straße abkam, folgten sie mir und blieben alle regunglos stehen. Niemand von ihnen wusste, was er jetzt machen sollte. Wir alle wussten, dass dieser Junge nicht überleben würde. Der eine Soldat näherte sich und legte seine Hand auf die Stirn des Jungen.. Er sagte, ich solle hier weg und auf der Straße bei meinem Bruder warten. Ich stand unter Schock und reagierte darauf erst gar nicht. Dann kam ein anderer Soldatund zog mich am Arm und brachte mich zu meinem Bruder. Ich hörte nur noch, dass die Männer darüber diskutierten, was sie nun machen sollten. Als ich den lauten Schuss hörte, wusste ich, was passiert war. Dieses Erlebnis werde ich niemals vergessen.
Ich weiß noch genau, wie er aussah. Noch heute sehe ich ihn vor mir und werde ihn immer in Erinnerung behalten. Er war noch ein Kind! Auch den sonst so stark wirkenden Soldaten sah man es an. Es liefen ihnen ebenfalls Tränen über die Wangen, die sie vor uns Kindern versuchten zu verstecken. Es herrschte für Stunden Stille und Bedrückung. Dieter zeigte auf meine Hand und erst jetzt sah ich, dass sie voll mit getrocknetem Blut war. Es war noch von ihm. Niemand verlor noch ein Wort über diesen Jungen.
Die drei Soldaten haben sich die ersten Tage um uns gesorgt und uns wohl in vielen Situation das Leben gerettet, ich war froh, dass sie da waren. Ohne sie, wären mein Bruder und ich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot gewesen. Wir waren mit ihnen ca. drei bis vierTage unterwegs. Wir schliefen auf kalten Böden oder in verlassenen Ställen. Die Nächte waren eiskalt und wir hungerten. Dieter und ich kuschelten uns jede Nacht dicht zusammen, damit wir uns gegenseitig mit unserer Körperwärme warm halten konnten.
Der eine Soldat erzählte uns eines Abends von seiner Frau und seinem Baby. Sein Kind konnte er bisher noch nicht sehen, da es auf die Welt kam, als er schon eingezogen worden war. Er zeigte mir ein Bild von seiner Frau und erzählte mir und Dieter, wie sie sich beide kennengelernt hatten.
Am nächsten Tag brachten die Männer uns zu einer Sammelstelle, die verwaiste Kinder aufnahm und deren Verwandte informierte. Als wir an der Sammelstelle ankamen, stand allen Anwesenden die Angst ins Gesicht geschrieben. Niemand wusste, wie weit die Russen entfernt waren. Als meine Tante Ella informiert worden war, machte sie sich sofort auf dem Weg uns zu holen. Sie war die Schwester meines Vaters und ein großartiger Mensch. Sie lebte in einem großen Einfamilienhaus in Garnsee, zusammen mit ihrer Schwägerin und deren zwei kleinen Töchtern. Tante Ella hatte ein furchtbares Schicksal: Ihr Mann und ihre drei Söhne waren im Krieg gefallen. Diese Nachricht erhielt sie acht Tage bevor wir ankamen. Deswegen hatte sie auch mit dem Trinken angefangen. Trotzdem hat sie sich rührend um uns gekümmert. Wir hatten einen warmen Schlafplatz und den Umständen entsprechend genug zu Essen. Ich glaube auch, sie war froh, dass wir beide bei ihr waren, da sie in uns ihre verstorbenen Söhne wiedergesehen hat und wir für sie eine Ablenkung waren.
Eines Tages, mein Bruder und ich spielten gerade, kam unsere Mutter in die Wohnstube. Ich dachte erst, ich halluziniere! Doch nach ein paarmal Hinsehen erkannte ich, dass sie wirklich vor uns stand. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sie sah. Ich habe wirklich nicht mehr daran geglaubt, dass sie noch leben würde. Dieter und ich liefen zu ihr und umarmten sie für gefühlte Stunden. Wir weinten alle und waren überglücklich. Tante Ella überraschte uns mit diesem Besuch.
Und ein paar Monate später erhielten wir die Nachricht, dass auch mein Vater lebte. Jedoch war er schwer verletzt und zutiefst traumatisiert. Er war nicht mehr der, der er einmal gewesen war. Über den Krieg sprach mein Vater nie. Meine Familie zog 1945, als der Krieg endgültig verloren war, nach Hamburg/Bergedorf. Wir sind nie wieder nach Ostpreußen zurückgekehrt und auch ich als Erwachsener habe es nicht geschafft. Die Erinnerung war zu schmerzhaft alles zurücklassen zu müssen.
Man hatte zu viel Angst. Angst, dass seiner Familie etwas passiert, dass man beliebig lange weggesperrt wurde. Die Stasi hatte viel Macht, weil das Regime die Möglichkeit hatte, „unbequeme“ Personen auszuschalten
Es war Anfang der 50er, da ging Hals über Kopf ein Lehrer in den Westen. Es hieß damals, er sei ein Nazi gewesen. Seine Familie ließ er zurück. Ob es wegen der Entnazifizierung war, weiß ich nicht.
Zu Unrecht beschuldigt, misshandelt und weggesperrt. Dies war für Jochen Stern bittere Wirklichkeit. Nachdem er als Junglehrer der LDP beitrat, wurde er bespitzelt und überwacht.
Die Sowjetunion deklarierte ihn daraufhin als Spion und inhaftierte ihn ohne Prozess.
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können