Ergebnis eines Interviews mit Frau B.
Ich habe Ulrike B., zu ihrer Ausreise aus der DDR am 8.3.1984 befragt. In diesem Interview stelle ich dar, wie es zur Ausreise der damals 16-Jährigen kam, wie sie sich fühlte und auch was sie über sich und ihre Familie dachte.
Wann hast du das erste Mal mitbekommen, dass ihr ausreisen wollt?
Es war nicht meine Entscheidung aus der DDR auszureisen, ich war ja noch viel zu klein. Da mein Vater immer sagte, er habe 14 Jahre lang versucht die DDR zu verlassen, müsste er also 1970 das erste Mal einen Ausreiseantrag gestellt haben. Damals war ich also 2 Jahre alt.
Als ich 8 Jahre alt war, setzte sich mein Vater mit mir und meinen drei älteren Geschwistern zusammen an einen Tisch und erklärte uns, dass er vorhätte, aus der DDR auszureisen. Er war unzufrieden mit den herrschenden Lebensumständen: zum Beispiel die nicht vorhandene Redefreiheit, die eingeschränkte Reisefreiheit, die starke Bespitzelung durch die Stasi und noch vieles mehr. Doch das Wichtigste, was er sagte, war, dass alles, was wir besprachen, geheim bleiben müsste. Daran hielt ich mich zunächst.
Wie hat sich deine Kindheit dadurch verändert?
Zuerst nicht wirklich, da niemand etwas von unseren Plänen wusste. Doch letztendlich sickerte etwas durch und die Stasi wurde auf uns aufmerksam. Ich hatte mich meiner Freundin anvertraut, die erzählte ihrem Vater davon. Er arbeitete für die Staatssicherheit, was ich erst später erfuhr.
Was bedeutete das für dich?
Alles, was wir heimlich und leise in der Familie besprachen und unternehmen wollten, um die DDR schnellstmöglich zu verlassen, wussten nun auch die „Anderen”. Ich hatte meiner Freundin viel erzählt, auch mein Unverständnis bezüglich der Ausreise.
Was habt ihr denn unternommen, um die DDR zu verlassen?
Wir haben eine Menge versucht, um Unterstützung zu bekommen. Mein Vater schrieb der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International” und bat um Freikauf aus der DDR. Wir fuhren außerdem nach Berlin und suchten die Westdeutsche Botschaft auf. Mein Vater ging allerdings immer alleine hinein und erzählte uns auch nicht, was dort geschah. Jede Woche schrieb er einen neuen Brief an die Staatschefs der DDR und forderte die Ausreise.
Wurden diese Briefe/Anfragen beantwortet?
Ich habe nie Post gesehen. Allerdings gab es den Erzählungen meines Vaters nach Verhöre. Er wurde von Mitarbeitern der Stasi mitten aus der Arbeit geholt, in Autos mit verdunkelten Scheiben gezerrt und in geheime Gebäude verschleppt. Dort fanden dann unter fragwürdigen Bedingungen die Verhöre statt. Dass das der Wahrheit entsprach, habe ich selbst erleben müssen. Ich wurde ebenfalls einmal aus der Schule abgeholt. Gleich nach Beginn des Unterrichts wurde ich aus der Klasse geholt. Zwei Herren nahmen mich wortlos mit zu ihrem Auto. Das Auto fuhr in eine Tiefgarage. Ich sollte aussteigen und einen langen dunklen Flur entlanggehen, von dem viele Türen abgingen. Sie setzten mich in ein kleines, abgedunkeltes Zimmer. Die beiden Herren setzten sich zu mir und sprachen sehr freundlich mit mir. Sie wollten mir helfen, eine neue Familie zu finden. Sie wussten, dass das Ganze von meinem Vater ausging und setzten voraus, dass ich gern in der DDR lebte und leben wollte. In diesem Moment wurde mir klar, woher sie das wussten. Es waren genau die Fakten, die ich meiner Freundin erzählt hatte. Sie boten mir an, mich in eine andere Familie zu bringen, die sich schon auf mich freute. Ich schwieg jedoch beharrlich. Das Einzige, was ich monoton von mir gab, war der Satz: „Ohne die Anwesenheit meines Vaters sage ich gar nichts.”
Wie viel Zeit verging, bis ihr tatsächlich ausreisen durftet und diese Schikanen ihr Ende fanden?
Das alles zog sich natürlich über Jahre hin. Meine Eltern wurden arbeitslos. Das gab es in der DDR ja eigentlich nicht, doch komischerweise wollte sie niemand mehr beschäftigen. Mein Vater war auch noch ein halbes Jahr im Gefängnis wegen angeblicher Republikflucht. Diese hatte er nie versucht, aber wie bei so vielen anderen Insassen wurde es einfach behauptet. Doch dann ging alles sehr schnell. Vier Wochen bevor wir endlich ausreisen durften, besuchte uns unser Nachbar, von dem das ganze Haus wusste, dass er bei der Stasi arbeitete. Er sagte uns: „Haltet die Füße still, es geht bald los”. Wir sollten doch bitte alle Aktivitäten wie das wöchentliche Briefschreiben oder Besuche der Botschaft etc. unterlassen. Zwei Tage vor unserer Abreise sagte uns unser Nachbar, dass es am Donnerstag, dem 08.03.84 so weit sein würde. Dies durfte er uns allerdings gar nicht offiziell sagen. Er war uns aber so wohlgesonnen, dass er uns noch etwas Zeit geben wollte. Eigentlich war es so geplant, dass wir das erst am Morgen des Ausreistages erfahren sollten. Es wäre so gelaufen, dass wir uns bis 12.00 Uhr hätten entscheiden müssen, entweder wir verlassen die DDR jetzt oder nie. Somit hätten wir an diesem Tag keine Zeit gehabt zu entscheiden, was wir mitnehmen wollten und was nicht. Wenn ich noch einmal zurückdenke, glaube ich, dass wir auch nur mit der Kleidung, die wir anhatten, gefahren wären.
Wie habt ihr die Nachricht aufgenommen?
Am nächsten Morgen habe ich die Schule nicht besucht. Stattdessen bin ich mit meinen Eltern zur Bank gegangen, um unsere Konten auszuräumen. Mit diesem Geld haben wir gleich die zwei größten Koffer gekauft, die wir finden konnten. Das restliche Geld haben wir geradezu verschenkt: Wir haben uns in den teuersten DDR Boutiquen komplett neu eingekleidet, wir konnten das Geld ja nicht mitnehmen. Es ist unfassbar, aber wir sind das Geld einfach nicht losgeworden. Ich meine, was soll man machen, wenn eine teure Jacke nur 20 Mark, eine Kugel Eis nur zehn Pfennig kosten und wir vielleicht fünftausend Mark hatten, wenn nicht mehr. In die Koffer kam nur Hausrat, alles, was uns von Wert erschien. Kleidung nahmen wir nicht mit, nur das, was wir anhatten. Wir nahmen zum Beispiel Goldrandteller, Kristallvasen und Silberbesteck mit. Außerdem schmuggelten wir 100 Westmark in einem kleinen Geheimfach in der Lasche eines Koffers.
Was geschah am Tag der Abreise?
Am Morgen der Abreise wurden wir von der Polizei abgeholt und auf die Dienststelle gebracht. Dort sollten wir alle Dokumente, die etwas mit unserer Identität zu tun hatten, abgeben: Ausweis, Reisepass, jegliche Urkunden, Medaillen, Schulzeugnisse, Belobigungen, wirklich alles, was beweisen konnte, dass wir waren, wer wir sind. Ich hatte das Gefühl, dass wir einmal komplett ausgelöscht wurden. Dafür bekamen wir dann eine Identitätsbescheinigung, um nachzuweisen, dass wir existierten. Auf der Polizeiwache sagte man uns, dass wir innerhalb von zwölf Stunden die DDR zu verlassen hätten. Für mich war das wie ein Rausch: Auf einmal bist du weg, kannst dich nicht verabschieden, wirst losgerissen und weggeschickt. Dann sind wir, so schnell es ging, erst nach Hause gefahren, haben uns die Koffer geschnappt und sind zum Bahnhof geeilt. Unglaublich, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Wir haben unsere Wohnung abgeschlossen und unser komplettes Leben hinter uns gelassen. Am Bahnhof sind wir dann in einen Zug gestiegen und Richtung Hamburg gefahren. Wir wurden ein letztes Mal am Übergangsbahnhof Helmstedt festgehalten. Hier wurde alles noch einmal genauestens durchsucht, unsere Koffer so wie unsere Körper.
Wie war es, in Hamburg anzukommen?
Eigentlich war ich traurig. Ich hatte ja alles zurückgelassen: alle Freunde, meine Sachen, einfach alles. Mein Vater sagte: „Endlich in Freiheit”. Ich empfand das nicht so. Er holte unsere geschmuggelten hundert Westmark raus und ich durfte mir etwas kaufen. Ich entschied mich für eine Tüte Tomaten. Ich war allerdings erstaunt, dass es um diese Uhrzeit überhaupt noch etwas zu kaufen gab, es war ja schon nach sechs Uhr oder so. Mein Vater sagte dazu nur noch: „So ist das, hier kann man entscheiden, wann man etwas will und was man will, für Geld gibt es alles”.
Man hatte zu viel Angst. Angst, dass seiner Familie etwas passiert, dass man beliebig lange weggesperrt wurde. Die Stasi hatte viel Macht, weil das Regime die Möglichkeit hatte, „unbequeme“ Personen auszuschalten
Ich rannte und rannte, so schnell ich konnte, und hatte furchtbare Angst. Ich konnte alles sehen: Wie die Bomben vom Himmel fielen und in die Häuser einschlugen. Ich konnte die Explosionen sehen und den ganzen Rauch, der zum Himmel stieg.
Mit neun Jahren wurde ich zum Jungvolk einberufen […] abends wurde uns etwas vorgelesen, das waren Texte, die uns gegen die Kommunisten aufhetzen sollten, kann ich heute sagen. Da wurde uns zum Beispiel auch gesagt, dass Horst Wessel von Kommunisten ermordet wurde, was aber nicht stimmt.
Wir trauern um die Redaktionsmitglieder, die uns für immer verlassen haben.
Unsere Ziele sind relativ schnell formuliert. Wir wollen einen Beitrag zu lebendiger Erinnerungskultur leisten, indem wir individuelle Geschichten und Erfahrungen einer breiten Masse zugänglich machen. Ebenso fördern wir mit unserem Projekt auf unterschiedlichen Ebenen den Austausch zwischen verschiedenen Generationen, die viel voneinander lernen können