Meine Geschichte

Dieser Eintrag stammt von Inga Ejsmont (*1994)

Ein Interview mit Anita Goßler (*1933)

 


 

Wie heißen Sie und wo wurden Sie geboren?
Mein Name ist Anita Goßler und ich am bin 24. 07.1933 in Delitzsch, bei Leipzig geboren. Zu allererst möchte ich sagen, dass ich mich nicht als Zeitzeugin verstehe. Ich kann mich nicht mehr genau an alle Ereignisse von damals erinnern, aus diesem Grund sehe ich mich als „Erinnerung“. Ich teile mit, was mir im Gedächtnis geblieben ist und was ich erlebt habe.


Wie sah Ihr Leben vor der Verhaftung aus?
Ich wollte gerne wie viele Jugendliche mein Abitur machen, was mir aber verwehrt wurde. Meine Noten waren eigentlich kontinuierlich gut, aber im letzten Jahr wo ich mich dem Abitur näherte wurden sie schlechter.
Als Jugendliche war ich nicht linientreu, sagte meine Meinung und verhielt mich auch nicht so wie es einem DDR Bürger gebühren sollte. 
1952 merkte, dass es in der DDR zu „grummeln“ anfing. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich die DDR gerne verlassen und wäre nach West Berlin gegangen, das habe auch öffentlich gesagt. Ich war eben erst 19 und habe nicht vorausgesehen, dass ich mir mit meinen Äußerungen geschadet habe.  

Im Januar 1953, musste ich nach dem nicht abgeschlossenen Abitur arbeiten gehen. Ich wurde zu einer  Ausbildung bei der „Reichsbahn“ gezwungen. Ich musste dort gegen meinen Willen arbeiten, weil ich ja auch die Voraussetzungen fürs Studium nicht erfüllt hatte.

Können Sie sich präziser an den Tag Ihrer Verhaftung erinnern?
Ja, ich erinnere mich. Es war ebenfalls im Januar 1953, als ich mich auf der Arbeit befand. Ich saß im Büro am Schalter und auf einmal sprachen mich drei Männer mit Pistolen an. Sie sagten mir sie müssten mich mitnehmen, zwecks „einer Sache“ die geklärt werden müsste. Ich wusste gar nicht worum es ging, doch ich musste mit. Kollegen sagten: „Sie käme bald wieder“, das tat ich aber nicht. An diesem Tag wurde ich verhaftet.

Wie ging es danach weiter?
Ich kam in das Städtische Gefängnis und wurde am nächsten Tag dem Haftrichter vorgeführt. Es wurde ein Haftantrag ausgefüllt und ich wurde zwei Tage später nach Leipzig gebracht zur Staatssicherheit. Ein Grund zur Verhaftung, wurde mir die ganze Zeit nicht genannt. 
Nach dieser Verlegung saß ich  fünf Monate in Einzelhaft, ich war zwischenzeitlich auch in Dunkelhaft, weil ich mich „schädlich“ geäußert habe. Das hieß, ich habe nicht gemacht was ich sollte. In der Haft durfte ich nicht sitzen und das Bett wurde tagsüber hochgeklappt, es waren dazu keine Sanitären Anlagen vorhanden.  Nach drei Monaten der Haftstrafe bemerkte ich, dass ich schwanger war. Die Gefängnisleitung glaubte mir nicht und sagte ich würde mir mit dieser Tatsache nur Vorteile erkaufen wollen. Nach einem Arztbesuch, wurde mir die Schwangerschaft bestätigt. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits im vierten Monat. Ich wusste nicht wie die Schwangerschaft ablaufen würde und ich das schaffen sollte, in der Haft das zu überstehen. 

Wann folgte Ihr Prozess? 

Am 3.Mai wurde ich dem Haftrichter vorgeführt und bei der Verhandlung sah ich auch meinen Verlobten und seinen Freund wieder. Bei dieser Verhandlung erfuhr ich auch den Grund zu meiner Verhaftung, dieser war wegen „Mitwisserschaft von Waffenbesitz“ und wegen „Erfindung sowie Verbreitung  von tendenziösen Gerüchten“. Ich hätte die DDR mitstürzen wollen, all das wofür ich beschuldigt wurde war erfunden und nicht wahr. Die Idee zum Sturz der DDR hatte ich nie und wusste auch nichts von einem vermeintlichen Waffenbesitzes. Ich hatte alles abgestritten, doch erhielt eine Haftstrafe von fünf Jahren. 

Sie haben zu Ihrem Zeitpunkt in der Haft die Aufstände vom 17. Juni 1953 miterlebt.

Können Sie diese kurz beschreiben?
Ich saß zu dieser Zeit im Stasi Gefängnis in Leipzig, dass von den Demonstranten gestürmt wurde. Wir konnten nicht rausgucken aus unseren Zellen, aber wir hörten  alles und klopften als Zeichen der Aufmerksamkeit an die Wände. Es fielen Schüsse und wir waren ziemlich verängstigt. Das Aufsichtspersonal machte uns von draußen verbal Angst, indem sie uns anschrien und uns drohten. Die Demonstranten kamen zwar ins Gebäude, doch konnten nicht zu uns vordringen oder uns befreien. So endete der Aufstand auch wieder. Es folgten aber in diesem Zeitraum viele Verhaftungswellen, die das Gefängnis füllten. Das war eine schreckliche Zeit.

Zu dieser Zeit saßen Sie die ganze Zeit in Einzelhaft, wie kamen Sie dann wieder in Kontakt mit anderen Menschen?

Ich kam erst ausschließlich wieder mit Frauen in Kontakt, als ich zur Geburt 1953 ins Krankenhaus gekommen bin. In Leipzig Meusdorf kam ich in ein Gefängniskrankenhaus, ich lag in einem großen Raum. Dort lagen ungefähr 20 Frauen die entbunden hatten, oder noch entbinden mussten. Wir waren alle politische Gefangene, das wusste ich. Ich bekam dort mein Kind im Oktober 1953 und konnte es auch aus eigener Kraft stillen. Nach etwa drei Monaten Anfang 1954 wurde mir meine Tochter weggenommen. Sie blieb in dem Zimmer und ich wurde über viele verschiedene Stationen in der DDR nach Hoheneck gebracht.

Wie sah Ihre Haft in Hoheneck aus?
Um sich ein Bild zu machen, unter welchen Haftbedingungen ich gelebt habe, muss ich dazu sagen, das Gefängnis war zu meiner Zeit vollkommen überbesetzt. Es war eigentlich Platz für  700 Frauen und wir waren 1600.
Ich lebte dort unter schrecklichen Bedingungen, es gab in den Zellen keine Toiletten und nichts zum Waschen. Es gab generell zu diesem Zeitpunkt für die Insassen keine sanitären Anlagen. Ich kam dort in eine Zelle mit zwei anderen Frauen. Wir mussten auch arbeiten im Gefängnis, ich nähte an einem Fließband Kittel. Für uns Insassinnen gab es eine Norm, die wir bei der Arbeit erfüllen mussten, ich schaffte diese nie. Im Hof hatten wir Freigang, wir mussten schweigend, eine viertel Stunde Runden im Kreis gehen. 

Uns stand täglich ein halber Liter Suppe zu, meistens Graupen und der Rest war Wasser. So hatten wir aber eine warme Mahlzeit. Wir bekamen auch Brot morgens zwei Scheiben und abends zwei Scheiben, das war unsere ganze Verpflegung. Manche Frauen brauchten auch mehr, ich habe meine eine Scheibe gegessen und meine zweite meistens weggegeben. In der Schwangerschaft habe ich etwas mehr Essen bekommen, aber nach der Verhandlung bin ich ja sofort ins Krankenhaus gekommen. Da habe ich verhältnismäßig gutes Essen gehabt, auch für das Kind. Als ich nach der Geburt und meinem Krankenhausaufenthalt wieder nach Hoheneck kam, war die Nahrungsversorgung sehr schlecht.
Nach circa vier Monaten Haft, bekam ich von der Aufseherin einen Zettel. Dieser sollte von meinem Verlobten geschrieben sein, der forderte ich solle unser Kind zur Adoption freigeben. Er würde gerne, dass unser Kind sozialistisch aufwachsen sollte. Ich konnte das nicht glauben und verweigerte diesen Antrag. Es war auch nicht seine Handschrift, das erkannte ich sofort. Ich wurde danach zur Leitung bestellt und mir wurde unterstellt, ich hätte der Aufseherin gesagt, sie hätte den Zettel gefälscht. Als Bestrafung musste ich in den Keller und bekam Dunkelhaft. In der Zelle war es stockdunkel und es befand sich nur eine Eisenliege in ihr, die tagsüber hochgeklappt ist. Ebenfalls waren in der Zelle Bretter und eine Decke. Ich weiß nicht mehr wie lange ich mich in Dunkelhaft befand, der Körper funktioniert nur noch. 



Welche Repressalien haben Sie in der Haft erfahren?
Es gab ein Erlebnis, was mir am meisten im Gedächtnis geblieben ist. Bei einem Verhör durch die Stasi, musste ich auf einem Melkschemel sitzen. Ich bin damals dann aus gerutscht und nach vorne gekippt. So saß ich auf dem Boden und meine Knie waren oben. Mir wurde dann von Anweisung des Vernehmungsoffiziers auf die Knie geschlagen. Ich habe davon heute noch eine Beule am Knie. Zum Arzt kam man nicht damals, man musste damit alleine fertig werden.
Ich wurde in der Haft mehrmals physisch misshandelt, auch in der Schwangerschaft.

Was ging ihr Leben weiter nach der Entlassung?
Nach 3 Jahren und acht Monaten Haft, wurde ich vorzeitig im September 1956  entlassen.

Ich kam aus frei und erfuhr, dass meine restliche Familie in den Westen gegangen war. Meine Mutter hatte von meiner Inhaftierung nichts erfahren und hatte mich vermisst gemeldet. Sie hatte mich gesucht und an den Demonstrationen am 17.Juni teilgenommen. Infolgedessen,  wurde sie selbst zu einem Jahr Haft verurteilt. Nach der Haftstrafe ist sie mit meinen Geschwistern 1954 in den Westen gegangen.
Somit lebte meine Familie weit weg und ich wusste ebenfalls nicht wo meine eigene also meine Tochter war. 

In Delitzsch lernte ich meinen  jetzigen Mann kennen und wir gingen, nach unserer Heirat, zusammen 1958 in den Westen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Mauer, trotzdem war die Ausreise gefährlich. Im Westen kam ich in ein Auffanglager in Marienfelde, von da aus brachte man mich zur Rehabilitation nach Hamburg, Bergedorf. Hier lebte ich mit meinem Mann ein drei viertel Jahr. Die Engländer und Franzosen rehabilitierten mich, ich erzählte von meinen Erfahrungen aus der Haft und meinen Erlebnissen. Bei der Reha hatten die Amerikaner alle meine Unterlagen aus Hoheneck, dass machte mich sprachlos.
Infolge der Reha begann ich auch nach meiner Tochter zu suchen. Die erste Anlaufstelle war das „Deutsche Rote Kreuz“, dort versuchten wir erst mal ihren Aufenthaltsort rauszubekommen, dass dauerte schon eine gefühlte Ewigkeit. Insgesamt warteten wir zwei Jahre, bis wir erfuhren haben, dass sie in ein Kinderheim gekommen war. Die Heimleitung, die keine Kinder bekommen konnte hatte sich aufgrund dessen meine Tochter mit nach Hause genommen, als ihr eigenes Pflegekind. Ihr Mann war Kreisleiter der SED, dieses Paar wollte natürlich ein Kind haben und sie wollten eben meins. Wir haben immer wieder Anträge gestellt, über das Rote Kreuz und im Alter von 14 Jahren erreichte diese meine Tochter. Sie musste mit ihren Pflegeeltern ins Jugendamt und wurde dort gefragt, ob sie zu uns in den Westen kommen wollte. Die Ideologie war fest bei ihr verankert und auch die Tatsache, dass sie lange nicht wusste dass sie adoptiert war, beeinflusste ihre Entscheidung. Sie war sich anfangs nicht sicher, als ihr die Lüge erzählt wurde: Das wenn sie in den Westen kommt sie dasselbe wie ihre Mutter arbeiten müsste, als Bordsteinschwalbe. Sie wollte in folgedessen nicht mehr kommen, sie sah ihre Pflegeeltern auch als ihre wahren Eltern an.

Wie sah der weitere Kontakt zu Ihrer Tochter aus?
Nach der Wende 1989 hatten wir Kontakt, ich wusste ja nun wo sie ist. Sie hat ebenfalls nach der Wende nach mir gesucht. Zwei Jahre nach Mauerfall, hatten wir Kontakt und wir trafen uns in Leipzig auf dem Bahnhof. Der erste Satz den sie zu mir damals sagte war: „Glaub bloß nicht das ich Mutti zu dir sage“. Das erwartete ich gar nicht von ihr, denn vor mir stand eine erwachsene Frau. Sie sagte sie wolle mit uns nichts zu tun haben. Ich erklärte ihr auch die Tatsache, dass ich inhaftiert war sowie die Gründe und schickte ihr Dokumente meiner Rehabilitation. All das war ihr egal, wir haben seitdem kein Kontakt mehr.
Mit dem Kontaktverlust zu meiner Tochter, kann ich nur schwer abschließen. Ich kann ihr im Grunde auch nicht wirklich böse sein. Sie hatte ihre eigene Mutter ja nie erlebt und hat es bei ihrer neuen Familie gut gehabt.

Konnten Sie nach diesen Erlebnissen wieder eine Familie gründen?
Ja natürlich, ich bekam mit meinem Mann noch vier Töchter einmal auch Zwillinge dabei. Ich habe meinen Kindern in einem gewissen Alter, von meiner Verhaftung erzählt. Wir haben eigentlich nie richtig darüber gesprochen und als meine älteste Tochter 14 wurde habe ich ihr das erklärt, aber habe ihr nicht alles gesagt. Einige Ereignisse wie die Dunkelhaft und die Folter habe ich verschwiegen. Meine Kinder haben dann irgendwann auch durch meine Öffentlichkeitsarbeit viel davon erfahren, sodass ich es ihnen nicht länger verschweigen konnte. 



 

War das eine Art von Aufarbeitung, mit Ihren Kindern über das Geschehene zu sprechen?
Ja schon, ich habe mich im Westen nicht getraut darüber zu sprechen. Sehr lange habe ich nichts gesagt, auch weil ich dachte dass mir kein Westdeutscher glauben würde, dass ich als „armer DDR Flüchtling“ unschuldig eingesperrt worden bin. 

Ich habe mich erst 2005 richtig öffnen können, dass auch nur durch Zufall. Am 17. Juli 2005 sollte am Gefängnis Hoheneck ein Kranz niedergelegt werden. Diese Aufgabe sollte mein damaliger Chef übernehmen. Ich arbeitete in einem Privatgeschäft, dass Molkerreiprodukte verkaufte. Ich war Bereichsleiterin zu diesem Zeitpunkt und er übertrug mir die Aufgabe, diesen Kranz zu überreichen. Am nächsten Tag, fiel mir erst diese besondere Bedeutung des Tages auf, es war aber zu spät diesen Termin wieder abzusagen. Ich musste mich also stellen und mein Mann begleitete mich. Nach der Niederlegung des Kranzes, sollte es eine Führung durch das ehemalige Gefängnis geben. Die Ansprechpartnerin zur Stiftung für die Aufarbeitung fragte mich, ob ich mitkommen wolle und da rutschte mir raus das ich dort selber inhaftiert war. Sie fragte mich darauf, ob ich mich schon irgendwo gemeldet hatte nach all den Jahren oder eine Haftentschädigung bekommen habe. Ich habe alles verneint, doch durch diese Frau und diesen Vorfall habe ich angefangen zu reden. Mich zu öffnen hat mir geholfen, sonst hätte ich es einfach weiter verdrängt.
Die ersten zwei Jahre danach waren ganz schlimm, da durfte mich niemand darauf ansprechen, denn ich war sehr emotional. Darüber richtig sprechen, konnte ich noch nicht, dass ist mir sehr schwer gefallen. Durch die Aufarbeitung in Form von Zeitzeugen Gesprächen, ganz klein angefangen, ging es besser. Es passiert manchmal noch, dass wenn Jugendliche kommen und Fragen stellen ich schlucken muss. Aber im Allgemeinen tut es mir gut, dass ich darüber gesprochen habe.
Zur Aufarbeitung haben wir den „Hohenecker Frauenkreis“ gegründet. Wir treffen uns jedes Jahr Anfang Mai. Alle Frauen wohnen ganz verstreut in Deutschland, aber einmal im Jahr finden wir zusammen. Viele sind erkrankt an den Folgen der Haft, wir sind ja fast verhungert.
Wir haben jetzt auch endlich erreicht, das Hoheneck eine Gedenkstätte wird und Sachsen endlich Geld gibt dafür. Ich setzte mich auch in vielen Opferverbänden dafür ein, dass die Menschen Haftentschädigung bekommen und eine gute Rente. Ich bringe mich ein, um anderen zu helfen und das hilft mir.

Wie gewinnt man nach all diesen Erlebnissen den Glauben an das Leben und das Gute zurück?
Um ehrlich zu sein, manchmal wollte ich sterben. Ich hatte ja eine glückliche Ehe und viele Kinder, doch trotzdem so Angst. Es fehlte mir auch an Selbstbewusstsein und ich kam mir vor als wäre ich nichts wert. Das stimme ja nicht, aber man denkt das ja so. Es war sehr schwer, ich dachte aber immer noch dabei an meine Kinder. Ich musste kämpfen, aber ich erinnerte mich an meine Familie und meinen Mann. Ich fand ins Leben zurück, ging arbeiten und fand die Stelle als Verkäuferin bei Lindner. In diesem Geschäft wurde ich befördert zur Filialleiterin und habe es geschafft. Mein Mann hat mich auch sehr unterstützt. Bei der Arbeit, hatte ich das gute Gefühl, ich werde gebraucht. Das gab mir viel Kraft und Mut!

Vielen Dank für das sehr beeindruckende und spannende Interview!

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