Stadtteilschule Bergedorf

„Ich hätte mich auch umgebracht …“

Das Interviev wurde bearbeitet von Cord Maschmann, Nora Ripoche, Jaqueline Busch, Patricia Reimers

Zu Beginn des Interviews könnten Sie sich bitte einmal vorstellen.


Ich bin Frau S. und lebe seit 19 Jahren in Deutschland. Ich bin 41 Jahre alt. Ursprünglich komme ich aus Afghanistan und wurde in der Stadt Kabul geboren. Dort habe ich dann auch bis zuletzt gelebt, bis ich geflohen bin.

 

Können Sie uns genauer erzählen, wie sich Ihr Leben dort gestaltete, bis Sie geflohen sind?
In Kabul habe ich meinen Schulabschluss gemacht und danach sechs Semester „Archäologie und Ethnografie“ studiert. Ich war erst vierzehn Jahre alt, als ich mein Abitur bestand. Das Schulsystem gestaltete sich in Afghanistan so, dass man bereits mit vier oder fünf Jahren als Zuhörer in einer Schulklasse sitzen konnte. Den Kindergarten fand ich langweilig, ich wollte unbedingt zur Schule und schnell meinen Abschluss machen. Ich wollte zu diesem Zeitpunkt unbedingt Journalistin oder Pilotin werden. Beide Berufe übe ich heute nicht aus (lacht).

 

Aufgrund des Krieges konnte ich mein Studium leider nicht beenden. Zudem wurde ich mit 16 Jahren verheiratet. Das ist in Afghanistan normal. Danach habe ich mich dann um das Geschäft meines Mannes als zweite Frau (heute Ex-Mann, ich bin seit sechs Jahren geschieden) gekümmert.

 

Was war das für ein Geschäft?
Wir hatten einen orientalischen Teppichhandel, wo wir auch Stoffe und Gold verkauft haben. Mein Mann war Geschäftsmann und sehr reich. Wir haben auch Teppiche nach Deutschland exportiert. Unsere Geschäfte verliefen zwischen Afghanistan, Pakistan, Iran, Dubai, China, Indien und eben Deutschland.

 

Da wir aufgrund der kritischen Situation sowieso nicht in Afghanistan bleiben wollten, gründeten wir 1992 eine GmbH in Deutschland. Wir wollten hier unsere Geschäfte und unser Leben weiterführen, als wir erfahren haben, dass die Mudschaheddin in Afghanistan an die Macht gekommen sind. Wir waren kurz in Deutschland, sind aber nach Afghanistan zurückgekehrt, da wir die Hoffnung hatten, dass die Mudschaheddin uns nichts antun würden, weil diese auch Afghanen waren. Leider ist alles anders gewesen und gekommen.

 

Inwiefern?
Auf die Geschäftswelt bezogen änderte sich alles: Wir konnten gar keinen Kontakt zu unseren Geschäften in Deutschland oder auch in anderen Ländern herstellen, sollten nur noch mit dem Iran und Pakistan kooperieren. Geschäftlich sind wir in Afghanistan festgesetzt worden und wir merkten, diese Lage war Ende Juli 1992 bis auf Weiteres unveränderbar. Wir hatten generell keinen Kontakt mehr zum Ausland, weder über Telefon, Fax oder Telegramm. Aber auch die Situation im privaten Bereich änderte sich radikal, denn in den 70-er und 80-er Jahren hatte sich ein modernes moslemisches Leben in Afghanistan etabliert. Aber jetzt durften Frauen nicht mehr aus dem Haus. Die Schulen und Unis wurden zerbombt oder geschlossen. Hübsche, junge Frauen wurden von den Mudschaheddin einfach verschleppt oder mitgenommen. Frauen durften das Haus nicht allein verlassen, nur in Begleitung ihres Ehemannes, des Vaters oder eines Bruders. Jungs durften auch keine normale Schule mehr besuchen, nur noch die „Madrasa“. „Madrasa“ ist eigentlich arabisch und ist eine islamische Schule, an der nur die Lehren des Islam sehr streng unterrichtet werden. Die Lage hat sich dann soweit politisch-gesellschaftlich verschlechtert, bis die Taliban kamen.

 

In der Zeit, in der die Taliban hier in Afghanistan herrschten, wurde alles noch schlimmer: Frauen mussten sich komplett verschleiern und waren in ihren Rechten komplett eingeschränkt. Sogar die Männer waren in Gefahr, sobald sie nicht den streng religiösen Richtlinien der Taliban folgten.

 

Wurden Sie oder Ihr Mann von den Taliban oder den Mudschaheddin bedroht?
Die Mudschaheddin haben uns einmal bedroht: Sie meinten zu uns, dass wir ihnen einen bestimmten Betrag an Geld geben müssen, eine Summe, die wir nie im Leben hätten bezahlen können, um sicher im Land leben zu können. Sie drohten meinem Mann, dass sie mich verschleppen würden, wenn er nicht bezahlen könnte. Mein Mann war verzweifelt, entgegnete aber den Männern, dass er nicht so viel Geld habe.

 

In der Nacht sind wir dann nach Pakistan geflohen.

 

Und so begann unsere Flucht!

 

Wie genau gestaltete sich die Flucht nach Pakistan?
In Afghanistan herrschten zu dieser Zeit schon kriegsähnliche Zustände, in der viele Bomben abgefeuert wurden. In dieser Nacht gab es eine zweistündige Feuerpause, damit sich die Menschen etwas zu essen holen konnten. In der Stadt gab es ein Lager, bei welchem man sich etwas zu essen holen konnte. Ich wünsche echt niemanden und keinem Land dasselbe, was wir dort durchmachen mussten. Leider herrschen aber auch heute noch schreckliche Zustände in meinem Heimatland! Mein Mann ist also in dieser Nacht, während der Feuerpause, schnell nach draußen gegangen, um etwas zu essen zu holen. Da bedrohten ihn die Mudschaheddin wieder. Mein Mann kam dann zurück und meinte zu mir, dass ich mich umbringen müsste, wenn die Männer der Mudschaheddin kämen, um einem schrecklichen Schicksal zu entgehen. Es gäbe keinen anderen Ausweg.

 

Hätten Sie das gemacht?
In dieser Situation, diesem Moment: Ja. Spät abends bin ich in unserer Wohnung auf einen Schrank geklettert und habe auf meinen Tod gewartet. Die Mudschaheddin sind jedoch nicht in unsere Wohnung gekommen. Sie sind nämlich fälschlicherweise in die Nachbarwohnung gegangen. In der Wohnung lebten auch junge Mädchen. Die Männer haben ein Mädchen mitgenommen, ein anderes hat Selbstmord begangen.

 

Früh am Morgen sind wir dann geflohen. Wir konnten nicht viel mitnehmen, wir hatten nur unsere Kleidung an und etwas Geld und unsere Pässe dabei. Pakistan ist in der Nähe von Kabul. Vergleichbar mit der Distanz von Hamburg nach Berlin. Mit einem Taxi sind wir zu einer Stadt in der Nähe von der Grenze gefahren. Dann sind wir in einem Bus umgestiegen, um nicht aufzufallen. Mit dem kleinen Bus sind wir dann direkt bis an die Grenze gefahren.

 

War das erlaubt?
Erlaubt war es, ja. Dadurch, dass wir Geld und unsere Pässe bei uns hatten, war das machbar. Wenn du Geld gehabt hast, dann konntest du die Grenze ohne Probleme passieren, indem du den Grenzsoldaten etwas Geld gegeben hast. Vorteilhaft war es auch, dass wir bereits vorher in Pakistan aufgrund unserer Geschäfte waren. Das konnten die Grenzsoldaten aus unseren Pässen entnehmen.

 

Was haben Sie bei der Flucht empfunden? Also war es eher die Angst, die Sie leitete oder das logisch strukturierte Denken, also das man einfach nur noch handelt, um in Sicherheit zu kommen.
Bei uns war es Letzteres. Wir haben nur noch gedacht: „Weg von hier!“

Eigentlich hatten wir auch keine andere Wahl mehr, nachdem, was in der Nacht in der Nachbarwohnung geschehen war. Alle, die konnten, sind damals nach Pakistan geflohen. Wir wussten auch nicht, was wir dann machen sollten, aber erst mal wollten wir einfach nur in Sicherheit, raus aus Afghanistan.

 

Wie ging es dann weiter?
In Pakistan haben wir versucht, mit unserem Geschäftsführer in Deutschland Kontakt aufzunehmen. Er hat zuerst gar nicht geglaubt, dass wir am Leben sind.

 

Bald stellte sich heraus, dass das Leben in Pakistan auch nicht einfach war. Wir haben zuerst eine Wohnung in Karachi gemietet. Frauen konnten, anders als in Afghanistan, auf der Straße in der Kleidung rumlaufen, wie sie wollten, das heißt, auch ohne Schleier. Also natürlich durften sie keinen kurzen Rock anziehen, aber Hosen waren zum Beispiel erlaubt. In Karachi habe ich auch kein Kopftuch getragen.

 

Nach sechs Monaten haben wir ein Geschäftsreisevisum für Deutschland bekommen. Das war ein großes, großes Glück für uns, weil wir hier in Deutschland Geld investiert hatten und eine Firma besaßen. Daher hatten wir diese Chance. Ansonsten weiß ich nicht, wie unser Leben sonst weiterverlaufen wäre.

 

Als wir dann endlich in Deutschland mit unserer Familie und vor allem den Kindern ankamen, hatte ich endlich das Gefühl in Sicherheit zu sein.

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